Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

02.08.2016

"Wir müssen Frauen mit Behinderung stärken, damit sie sich beim Hilfetelefon melden, wenn sie Gewalt erleben"

Expertenstimme: Im Gespräch mit David Schmidt, dem Vorsitzenden des Berufsverbands Heilerziehungspflege (HEP) in Deutschland

Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger betreuen, beraten, bilden und pflegen Menschen mit Behinderungen. Ob in Wohngruppen, Werkstätten oder Gesprächskreisen: Als enge Vertraute sind sie oftmals wichtige Ansprechpersonen für Menschen mit Behinderungen – insbesondere dann, wenn es um das Thema "Gewalt gegen Frauen" geht. Der Berufsverband Heilerziehungspflege stärkt seine Mitglieder für diese Aufgabe – und ist eine Partnerschaft mit dem Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" eingegangen. Im Interview spricht Bundesvorsitzender David Schmidt über die Zusammenarbeit.

In den vergangenen Jahren ist der Berufsverband Heilerziehungspflege sehr aktiv gegen Gewalt an Frauen geworden. Warum ist Ihnen dieses Thema so wichtig?

Das Thema Gewalt gegen Frauen befindet sich gerade in der Behindertenhilfe nach wie vor in einer Grauzone: Sie findet hinter verschlossenen Türen statt, wird häufig tabuisiert. Weil so wenig darüber gesprochen wird, haben Betroffene kaum die Möglichkeit, Gewalterfahrungen zu thematisieren, Hilfe in Anspruch zu nehmen und aus der Gewalt auszubrechen. Das gilt natürlich auch für Frauen ohne Behinderungen. Aber für Frauen mit Behinderungen, und insbesondere mit geistigen Behinderungen, ist der Zugang zu Informationen und Hilfsangeboten deutlich erschwert. Darum ist es mir persönlich ein wichtiges Anliegen, das Thema auf die Tagesordnung zu bringen – gerade im Bereich der Behindertenhilfe.
 

Wie genau tun Sie das?

In einem ersten Schritt möchten wir jene Menschen, die vor Ort arbeiten, für die verschiedenen Formen von Gewalt gegen Frauen sensibilisieren. Denn nur gut informierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können das Thema in ihrer Arbeit gezielt und einfühlsam ansprechen und für Aufklärung in den Einrichtungen sorgen. Wir leisten zu dieser Sensibilisierung einen Beitrag, indem wir unsere Mitglieder regelmäßig über Formen, Ausprägungen und Hilfsangebote informieren. Das geschieht zum Beispiel in unserer Fachzeitschrift. Außerdem bieten wir Fortbildungen auf Bundes- und Landesebene zu dem Thema an. Wir merken verstärkt, dass da großes Interesse und Bedarf bestehen.
 

Welche Rolle spielt das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" dabei?

Für Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger, aber vor allem auch für betroffene Frauen mit Behinderungen ist das Hilfetelefon ein wichtiges Angebot. Fachkräfte haben die Möglichkeit, sich zunächst anonym und ohne Handlungsdruck beraten zu lassen oder die Situation in ihrem Umfeld mit einer neutralen, externen Beraterin durchzusprechen. Betroffene erhalten dank des Hilfetelefons barrierefreie Beratung und Hilfe – das ist gerade dann wichtig, wenn der Weg in eine entsprechende Fachberatungsstelle schwer fällt.

Darum machen wir gezielt auf das Angebot des Hilfetelefons aufmerksam – etwa mit Anzeigen und Artikeln in unserer Fachzeitschrift "HEP-Informationen", der wir Anfang des Jahres sogar den Hilfetelefon-Flyer in Leichter Sprache beigelegt haben, oder auf Facebook. Auch im Rahmen verschiedener Veranstaltungen wie unserer diesjährigen bundesweiten Fachtagung informieren wir über das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen", verteilen Material und bitten um Bekanntmachung des Angebots in den Einrichtungen.
 

Wo liegen die besonderen Herausforderungen in der Umsetzung einer gewaltfreien Behindertenhilfe?

Die Fachkräfte vor Ort sind häufig in ihren Abläufen fest eingetaktet und haben wenig Zeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und genau diese Zeit benötigen sie! Denn statt einer rein fachlichen, abstrakten Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt gegen Frauen, müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich mit ihren eigenen Erfahrungen und vielleicht sogar mit der eigenen Gewaltausübung beschäftigen, um Schritte aus der Gewalt gehen zu können.

Auch sollte die Leitung in den Einrichtungen aktiv werden. In Wohnheimen und Werkstätten muss eine fachliche Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgen, um eine Kultur zu etablieren, die Gewalt keinen Raum gibt. Betroffene wie auch Fachkräfte sollten die Sicherheit haben, dass mögliche Gewalterlebnisse angesprochen werden können. Hilfreich wäre beispielsweise eine Art gemeinsam erarbeiteter Leitfaden, in dem genau festgehalten wird: Was sind Formen von Gewalt? Wie wollen wir damit umgehen?
Ganz grundsätzlich ist es mein Wunsch, dass wir die Betroffenen so weit stärken, dass sie sich beim Hilfetelefon melden, wenn sie Gewalt erlebt haben – und dass es dadurch langfristig zu Veränderungen in den Einrichtungen kommt.
 

Halten Sie denn eine gewaltfreie Behindertenhilfe überhaupt für realisierbar?

Das ist natürlich unser Ziel! Ich wünsche mir von Heilerziehungspflegerinnen und-Heilerziehungspflegern, dass sie gewaltfrei arbeiten. Zugleich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass wir uns mitten in einem fundamentalen Wandel befinden: Im letzten Jahrhundert galt Gewalt in der Behindertenpflege als völlig normal. In den vergangenen Jahrzehnten wurde sie vor allem tabuisiert. Heute stellen wir uns diesem Thema und müssen es auch in der Öffentlichkeit bekannt machen.

In diesem Wandel ist es erfreulich, dass unsere Klientinnen und Klienten tendenziell selbstständiger werden: Teilhabe wird immer mehr ermöglicht, Menschen mit Behinderungen nehmen am öffentlichen Leben teil und werden verstärkt darin unterstützt, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Das ist ein wichtiger Schutz. Indem wir bei unseren Klientinnen und Klienten sowie bei den Fachkräften ein Bewusstsein für das Thema Gewalt gegen Frauen schaffen, gehen wir aus meiner Sicht wichtige Schritte. Leider geschieht ein solcher Wandel hin zu einer gewaltfreien Pflege nicht von einem Tag auf den anderen. Für uns bleibt noch vieles zu tun.

Der Berufsverband Heilerziehungspflege als Partner des Hilfetelefons

Der Berufsverband HEP hat bundesweit rund 1.600 Mitglieder: Heilerziehungspflegerinnen und -Heilerziehungspfleger und Auszubildende, Fachschulen sowie Einrichtungen der Behindertenpflege. Heilerziehungsfachkräfte haben eine sozialpädagogisch-heilpädagogisch und pflegerische Ausbildung und arbeiten im ambulanten, stationären oder aber auch im selbstständigen unternehmerischen Bereich. Seit 2015 engagiert sich der Berufsverband Heilerziehungspflege für das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" und hilft, das Angebot bei seinen Mitgliedern und bei Menschen mit Behinderungen bekannt zu machen. Dabei arbeiten alle Funktionsträgerinnen und -träger im Berufsverband ehrenamtlich.

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