Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

23.08.2016

Ermutigen, schützen, zuhören – damit Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen keine Chance hat

Gastbeitrag: Martina Puschke schreibt über Gewaltprävention in der Arbeit mit behinderten Frauen

Martina Puschke ist Projektleiterin im Verein Weibernetz e. V., dem Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung. Sie sitzt als Expertin im Beirat des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen". Im Gastbeitrag erklärt die Diplom-Pädagogin, wie Frauen mit Behinderungen vor Gewalt geschützt werden können.

Frauen mit Behinderung erleben Studien zufolge zwei- bis dreimal häufiger sexualisierte Gewalt als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt in Deutschland und doppelt so häufig körperliche Gewalt. Dies sind erschütternde Fakten, denen wir vom Verein "Weibernetz e. V." tagtäglich ins Auge blicken. Als Interessenvertretung behinderter Frauen suchen wir mit Workshop-Angeboten, Publikationen und natürlich politischer Arbeit nach Lösungen und Antworten und bringen das Thema "Gewalt gegen Frauen" immer wieder auf die öffentliche Tagesordnung. Warum sind so viele Frauen mit Behinderungen von Gewalt betroffen? Und was können wir tun, um Gewalt zu verhindern und betroffenen Frauen Auswege zu zeigen? Auf diese Fragen gibt es zwar keine pauschalen Antworten, aber Ansätze, an die wir anknüpfen und anhand derer wir Handlungsstrategien entwickeln können.

 
Mut machen "Nein" zu sagen

Vielen Frauen mit Behinderungen ist gemeinsam, dass ihnen von frühester Kindheit an weniger zugetraut wird. Das führt oft dazu, dass ihnen Selbstvertrauen fehlt. Hinzu kommt, dass Mädchen mit Behinderungen häufig nicht lernen, dass sie ihre eigenen Grenzen schützen dürfen und müssen – insbesondere dann, wenn sie pflegerische Unterstützung benötigen. Beispielsweise bei der Intimpflege oder dem Anpassen von Hilfsmitteln wie zum Beispiel Korsetts gehört enger Körperkontakt zum Alltag. Dieser ist Frauen möglicherweise unangenehm, muss aber erduldet werden. Wenn Mädchen nie gelernt haben, ihre Grenzen zu verteidigen, werden sie sich im Fall von körperlicher oder sexualisierter Gewalt vermutlich eher nicht wehren. Bei potenziellen Tätern gelten sie daher als "leichte Opfer".
Hier ist es wichtig, dass Frauen mit Behinderungen stark gegen Gewalt gemacht werden. Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse helfen ihnen, "Nein!" zu sagen und ihre Grenzen zu verteidigen. In Frauengruppen können sie sich austauschen, sich gegenseitig ermutigen oder überlegen, was in ihrer Umgebung besser werden muss, damit sie sich sicher fühlen können.

 
In Einrichtungen Sicherheit geben

Bei Frauen, die in (teil-)stationären Einrichtungen leben oder arbeiten, ist der Alltag in vielerlei Hinsicht fremdbestimmt – insbesondere durch den strengen Tagesablauf nach Dienstplan und zu wenig Personal. Wenn in Wohneinrichtungen Toiletten und Duschen nicht abgeschlossen werden können, die Bewohnerinnen nicht mitbestimmen können, mit wem sie zusammen wohnen und wer die Pflege macht, wird ihre Intimsphäre auf allen Ebenen missachtet. Das ist dann der Nährboden für Übergriffe und Gewalt.

Um dem vorzubeugen, müssen Fachkräfte  und Ehrenamtliche besonders sensibel für dieses Thema sein. Sie sollten über die Entstehung von Gewalt, ihre Formen und den möglichen Umgang damit Bescheid wissen. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt in der Prävention.
Wir wünschen uns daher, dass sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in Einrichtungen der Behindertenhilfe gezielt dafür einsetzen, dass es in ihrem Arbeitsfeld klare Vorgaben zur Gewaltfreiheit, Leitlinien zum Umgang mit Gewalt sowie Ansprechpersonen im Gewaltfall gibt. Frauen sollten wissen, wohin sie sich wenden können, wenn sie Gewalt erlebt haben. Denn eine Betroffene wird nur dann von der Gewalttat erzählen, wenn das Pflegepersonal offen für das Thema ist oder wenn es eine konkrete Ansprechperson gibt. Hilfreich sind hier auch Informationen über Unterstützungsangebote bei  Gewalt gegen Frauen. Wir weisen in unserer Arbeit zum Beispiel gern auf das Material des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" hin. Dort können gewaltbetroffene Frauen selbst anrufen und sich auch in Leichter Sprache und tagsüber in Deutscher Gebärdensprache beraten lassen.
 

Wachsam sein – ohne Tabus im Denken

Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen ist nicht immer leicht zu erkennen, da jede Frau ein Gewaltvorkommen anders verarbeitet: Manche werden ganz still und ziehen sich zurück; andere werden laut und (auto-)aggressiv. Jede plötzliche Verhaltensveränderung kann ein Anzeichen von Gewalt sein. Besonders auffällig sind plötzliches Bettnässen, Rückzug, unsicheres Auftreten, Gereiztheit, häufige Traurigkeit, selbstverletzendes Verhalten und Aggressivität. Deshalb ist es insbesondere bei Frauen, die einen hohen Unterstützungs- oder Pflegebedarf haben, wichtig, das auffällige Verhalten nicht vorschnell ausschließlich mit der Beeinträchtigung in Verbindung zu bringen.
Grundsätzlich müssen alle, die beruflich mit Frauen mit Behinderungen zu tun haben, im täglichen Umgang wachsam sein – auch gegenüber dem eigenen Kollegium. Denn die meisten Gewaltfälle werden von Täter und Täterinnen im nahen Umfeld verübt. Da darf es keine Tabus im Denken geben! Alle Handlungen im Kollegen und Kolleginnenkreis, die einem "irgendwie komisch" vorkommen, sollten unbedingt ernst genommen werden.
 

Im Gewaltfall die Betroffene nicht übergehen

Wenn tatsächlich ein Fall von Gewalt vermutet wird, gilt: Ruhe bewahren und nicht überstürzt handeln! Erst einmal ist es wichtig, der Frau zu glauben und ihr zu versichern, dass nicht sie die Schuld an den Geschehnissen trägt. Außerdem sollten keine Schritte über den Kopf der betroffenen Frau hinweg unternommen werden – sonst ist sie erneut in einer Situation der Fremdbestimmung. Oft sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unsicher, ob tatsächlich ein Gewaltfall vorliegt und wie weiter zu verfahren ist. Was soll man einer betroffenen Frau raten? Was, wenn zum Beispiel ein Kollege zum Täter geworden ist? Wo findet die Betroffene eine barrierefreie Beratung? Gemeinsam mit geschulten Beraterinnen wie zum Beispiel beim Hilfetelefon oder bei einer Fachberatungsstelle können Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Behindertenhilfe die nächsten Schritte planen. Denn niemand muss beim Thema "Gewalt gegen Frauen" alleine handeln und entscheiden! Wenn sie genau hinsehen, sich informieren und sich bei Bedarf Hilfe holen, dann ist schon viel gewonnen – davon bin ich zutiefst überzeugt.
 

Info: Über Weibernetz e.V.

Der Verein Weibernetz e. V. ist das Bundesnetzwerk von Frauen, Lesben und Mädchen mit Beeinträchtigung. Er bildet seit 1998 das Dach der Landesnetzwerke und Koordinierungsstellen behinderter Frauen. Als bundesweite Selbstvertretungsorganisation von und für Frauen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen fungiert Weibernetz e. V. als politische Interessenvertretung behinderter Frauen. Weibernetz e.V. arbeitet frauenparteilich, behinderungsübergreifend und unabhängig.

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