11.07.2024
"Gewalt gegen Frauen wirft weniger die Frage nach der Qualität einer Beziehung als nach der Qualität eines Gemeinwesens auf." Dieses Zitat der Soziologin Carol Hagemann-White unterstreicht, welche Bedeutung dem sozialen Umfeld bei der Prävention von Gewalt gegen Frauen und bei der Unterstützung gewaltbetroffener Frauen zukommt. Sowohl individuelles Engagement als auch die Solidarität ganzer Gemeinschaften können dazu beitragen, Veränderungen anzustoßen und Gewaltsituationen zu beenden. Wie Menschen aus dem sozialen Umfeld Betroffene etwa in Fällen von Häuslicher Gewalt oder sexualisierter Gewalt unterstützen können, darüber informiert das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" rund um die Uhr kostenfrei und vertraulich.
Allein im Jahr 2023 wendeten sich 8.715 unterstützende Personen an die Beraterinnen des Hilfetelefons. Darunter Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, der Familie, der Nachbarschaft und dem Kollegium. "Einerseits sind Beratungssuchende aus dem sozialen Umfeld Betroffener häufig froh und dankbar, mit jemandem sprechen zu können. Andererseits empfinden sie oft einen großen Handlungsdruck", schildert Julia Eckert, Fachbereichsleiterin beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen".
Die Beraterinnen stehen vor der Aufgabe, ihnen diesen Handlungsdruck zu nehmen. "Auch wenn der Wunsch, etwas zu verändern, noch so groß ist: Gewaltbetroffene Frauen müssen selbst darüber entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkt sie welche Schritte unternehmen." Dieser Grundsatz der Selbstbestimmung gilt für die Beratung Betroffener ebenso wie für die Beratung von Menschen aus deren sozialem Umfeld. "Das ist oft ein schmaler Grat. Doch jedes noch so gut gemeinte aber nicht abgesprochene Eingreifen durch eine nahestehende Person kann sich für Betroffene wie ein erneuter Kontrollverlust und eine Grenzüberschreitung anfühlen", schildert Julia Eckert.
Statt eigene Entscheidungen zu treffen, Frauen zu bevormunden oder sie zu etwas zu drängen, geht es für Menschen aus dem sozialen Umfeld vielmehr darum, das Thema Gewalt zu enttabuisieren, für betroffene Frauen da zu sein und sie zu ermutigen. So können Menschen bereits Veränderungen anstoßen, indem sie das häufig schambesetzte Thema Gewalt offen ansprechen, indem sie einer Betroffenen, die sich ihnen anvertraut, Glauben schenken, oder auch indem sie einer Frau den mehrsprachigen Flyer des Hilfetelefons zukommen lassen.
Mit den Beraterinnen des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" können Personen aus dem sozialen Umfeld mögliche Handlungsoptionen besprechen. Beispielsweise kann es für Führungskräfte, die den Verdacht haben, dass eine Angestellte im privaten Umfeld Gewalt erlebt, eine Option sein, im Rahmen eines Mitarbeitergesprächs von Seiten der Teamführung Unterstützung anzubieten. Möglicherweise kann eine Freundin einer Betroffenen Mut machen, indem sie ihr anbietet, mit ihr gemeinsam beim Hilfetelefon anzurufen. Gegebenenfalls ist es für eine Betroffene von Partnerschaftsgewalt hilfreich zu wissen, bei welcher Person sie in einer Notsituation übernachten oder eine gepackte Tasche deponieren kann.
"Sich aus Häuslicher Gewalt zu lösen, ist ein besonders schwieriger Prozess, der von Betroffenen viel Kraft verlangt und in der Regel mehrere Anläufe braucht. Menschen aus dem sozialen Umfeld können Angebote machen – müssen es aber auch akzeptieren, wenn diese nicht wahrgenommen werden", betont Julia Eckert. Um Unterstützung zu signalisieren, kommt es nicht darauf an, wie nah eine Person der Betroffenen steht. Sowohl Familienangehörige als auch Personen aus dem beruflichen Kontext oder Nachbarinnen und Nachbarn haben die Möglichkeit, im offenen, freundlichen Kontakt zu einer Betroffenen zu bleiben und für sie da zu sein, ohne sie zu bedrängen.
Für Menschen aus dem sozialen Umfeld ist es außerdem wichtig, sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. "Wenn Sie erleben, dass in der Nachbarwohnung eine Situation eskaliert, rufen Sie die Polizei. Wenn Sie merken, dass in Folge eines Gewalterlebnisses bei einer Betroffenen massive körperliche Reaktionen wie Panikattacken auftreten, rufen Sie den Rettungsdienst oder den ärztlichen Notdienst. Oft ist die größte Hilfe, ansprechbar zu sein und in Absprache mit der Betroffenen professionelle Unterstützung zu organisieren", betont Petra Söchting, Leiterin des Hilfetelefons.
Jenseits des Engagements einzelner Unterstützender aus dem sozialen Umfeld kann auch zivilgesellschaftliches Engagement viel bewirken. Wie groß der Einfluss des sozialen Umfeldes ist, darüber gibt die mit Mitteln des Bundesinnovationsprogramms "Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen" kofinanzierte Metastudie "Community matters" Auskunft. Im Auftrag der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg wurden mehr als 50 internationale Projekte und Ansätze untersucht, die im Communitybereich zu Gewalt gegen Frauen und Häuslicher Gewalt international durchgeführt wurden bzw. weiterhin bestehen. Darunter die in Hamburg gestartete Initiative "StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt", "SASA! Together" aus Uganda oder das Modellprojekt "Verhinderung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinderungen in Kambodscha".
Die Metastudie zeigt: Durch zivilgesellschaftliches Engagement und die Aktivierung von Gemeinschaften lassen sich deutliche Fortschritte erzielen. So konnte in vielen Fällen die soziale Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen gesenkt werden. Problembewusstsein, Selbstvertrauen und Handlungswissen nahmen zu und Fälle von Partnerschaftsgewalt wurden signifikant verringert. Zu diesen Erfolgen tragen laut Metastudie verschiedene Faktoren bei. Unter anderem kommt es darauf an, in den Gemeinschaften über Gewalt und Geschlechterungleichheit zu reden und diese Themen zu enttabuisieren. Darüber hinaus sind Projekte besonders dann erfolgreich, wenn alle Menschen eines Stadtteils partizipativ in das Engagement gegen Gewalt an Frauen einbezogen und Unterstützungsangebote für Betroffene bereitgestellt werden. Aus erfolgreichen Community-Projekten können sich nicht nur kurzfristige Ergebnisse, sondern dauerhafte Veränderungen von Normen, Einstellungen und Verhaltensweisen ergeben, die die Prävention begünstigen.
Sie haben den Verdacht, dass eine Frau in Ihrem Umfeld Gewalt erlebt? Sie möchten wissen, wie Sie eine gewaltbetroffene Freundin unterstützen können? In Ihrer Familie hat es einen Fall von sexualisierter Gewalt gegeben? Die Beraterinnen des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ beraten Sie gerne: Rufen Sie an unter der kostenfreien Rufnummer 116 016 oder informieren Sie sich auf www.hilfetelefon.de.
Infomaterialien des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“, darunter Flyer, Aufkleber und Plakate, können Sie hier kostenfrei bestellen und in Ihrem Umfeld auslegen oder verteilen: www.hilfetelefon.de/materialien.html