Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

10.05.2021

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ – ein wichtiger Rettungsanker in Krisenzeiten

Die Covid-19-Pandemie verunsichert, verursacht Ängste und Zukunftssorgen – der Beratungsbedarf ist groß. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ berät telefonisch und online, und zwar niedrigschwellig, professionell, kostenfrei, anonym und rund um die Uhr. Da nur wenige Einrichtungen ein solches Angebot vorhalten, werden den Beraterinnen des Hilfetelefons häufig Fragen zur Gesundheit, zum Coronavirus und zu den Schutzmaßnahmen gestellt. Insbesondere in der ersten Phase des Lockdowns sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie sehr präsent. Für die Beraterinnen bedeutet dies eine höhere Belastung. Immer wieder müssen sie klären, ob das Anliegen dem spezifischen Auftrag des Hilfetelefons entspricht und zielgerichtet geholfen werden kann.

Steigende Nachfrage

Seit Einrichtung des Hilfetelefons wächst – aufgrund seiner zunehmenden Bekanntheit – die Anzahl der Beratungen jährlich um durchschnittlich 12 Prozent: Im Jahr 2013 finden rund 19.000 Beratungen statt, 2020 werden über 51.000 dokumentiert. Das vergangene Jahr liegt dabei mit etwa 15 Prozent leicht über dem Durchschnitt. Ab Ende März nimmt die Zahl der Beratungskontakte binnen weniger Wochen um rund ein Viertel zu; statt etwa 858 wöchentlichen Beratungen bis Ende März verzeichnet das Hilfetelefon seitdem pro Woche etwa 1.024. Dabei nehmen die Anfragen zu häuslicher Gewalt mit 34 Prozent überproportional zu. Jeden Tag wird im Schnitt in 66 Fällen zu Partnerschaftsgewalt beraten, 2019 sind es 55 Fälle. Anders ausgedrückt: Im Jahr 2020 findet alle 22 Minuten eine Beratung zu häuslicher Gewalt statt.

Eine Sonderauswertung des Hilfetelefons zeigt, dass die Einschränkungen und Belastungen durch die Corona-Situation häufig dazu führen, dass sich Konflikte in Partnerschaften zuspitzen und bestehende Gewaltsituationen eskalieren. Betroffene Frauen berichten von verstärkter Entladung der Gewalt, Verschlimmerung von Gewaltausbrüchen, Zunahme von Aggressionen sowie einer hohen Gereiztheit des Partners. Andere erfahren unter Corona-Bedingungen zum ersten Mal Gewalt und benennen dies auch so. Kontaktbeschränkungen, drohende Arbeitslosigkeit oder finanzielle Sorgen werden häufig als Auslöser benannt.

Mehr Menschen nehmen Gewalt gegen Frauen wahr

Insbesondere gewaltbetroffene Frauen suchen seit Beginn des ersten Lockdowns Rat und Unterstützung beim Hilfetelefon: Von 2.073 im März steigt deren Zahl im April um 25 Prozent auf 2.593 und bleibt bis Jahresende auf konstant erhöhtem Niveau. Menschen aus deren sozialem Umfeld melden sich ebenfalls häufiger. Im April steigt deren Zahl um ein Drittel von 608 auf 807 Beratungen. Auch danach liegt sie konstant bei durchschnittlich 800 pro Monat, im Jahr 2019 sind es etwa 624 Ratsuchende. Viele Unterstützende berichten, dass sie seit dem ersten Lockdown mehr Zeit zu Hause verbringen und dadurch vermehrt zu Zeuginnen und Zeugen von Gewaltausbrüchen in der Nachbarschaft werden.

Hilfetelefon als Anlaufstelle bei Lebenskrisen

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie macht sich eine große Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Beratungsauftrag des Hilfetelefons und den Erwartungen der Ratsuchenden bemerkbar. In der ersten Phase des Lockdowns melden sich auch Menschen, die offensichtlich nicht von Gewalt betroffen sind. Die Pandemie hat bei vielen finanzielle Sorgen, Unsicherheiten und Zukunftsängste ausgelöst oder verstärkt, der Bedarf an niedrigschwelliger Hilfe ist groß. Die Beraterinnen erkennen häufig erst im Verlauf des Gesprächs, ob eine frauenspezifische Gewaltproblematik vorliegt.

Dies zeigt sich in einem Anstieg der Beratungen ohne Gewaltkontext um 23 Prozent. Im ersten Quartal liegen diese bei 1.750 Fällen und steigen im zweiten auf 2.145 Fälle an. Darunter fallen Familienkonflikte, die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes, Einschränkungen aufgrund von Kontakt- und Reisebeschränkungen, die Angst vor Isolation, Einsamkeit und depressive Verstimmungen bis hin zu Suizidgedanken, Gesundheitsfragen sowie vielfältige Ängste. Der Anstieg der Beratungen zum gesetzlichen Auftrag des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ liegt mit 26 Prozent jedoch höher: Sie steigen von 8.608 im ersten auf 10.844 Fälle im zweiten Quartal.

Dauer und Intensität der Gespräche verändern sich

Das Beratungsaufkommen des Hilfetelefons steigt jedoch nicht nur in der Summe, auch die Anforderungen verändern sich: Beratungen dauern länger und sind aufgrund der Komplexität deutlich anspruchsvoller. Zudem kommt es verstärkt zu akuten Krisen und Notfällen, die es zu bewältigen gilt. Bei besonders schwierigen Fallkonstellationen stehen die Beraterinnen vermehrt vor der herausfordernden Aufgabe, bereits im Rahmen der Erstberatung gangbare Lösungen zu finden.

Mehr akute Krisen, mehr Verletzungen

Im Jahr 2020 gehen vermehrt Anrufe aus konkreten Notsituationen heraus ein, in denen sofort Hilfe organisiert werden muss – etwa über Konferenzschaltungen mit der Polizei oder dem Rettungsdienst. Vergleicht man das erste mit dem dritten Quartal, verdoppelt sich die Beratungszahl mit Telefonschaltungen auf 250. Seit dem zweiten Quartal führen die Beraterinnen auch 29 Prozent mehr Kriseninterventionen durch. In den folgenden Monaten bleiben diese Zahlen weiterhin hoch. Mit Pandemiebeginn melden sich zudem häufiger Frauen mit akuten Verletzungen aus konkreten Gefährdungssituationen heraus. In diesen Fällen sind die Beraterinnen gefordert, ad hoc Hilfe zu organisieren, wodurch die Beratungsgespräche sehr zeitintensiv werden.

Mehr Beratungen in Fremdsprachen

Das Hilfetelefon berät in 17 Fremdsprachen – entweder durch Hinzuziehen einer Dolmetscherin oder durch die Beraterinnen selbst. Im Jahr 2020 nehmen fremdsprachliche Beratungen im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Viertel zu: Im zweiten Quartal sind es mit Dolmetscherin 37 Prozent, ohne Dolmetschung durch die Beraterinnen sogar 50 Prozent. Es ist anzunehmen, dass sich auch die Situation für Frauen mit Migrationshintergrund ohne ausreichende deutsche Sprachkenntnisse in der Pandemie verschärft. In Gesprächen wird deutlich, dass die Corona-Krise die vielerorts existierende Isolation dramatisch verschlechtert. Dazu kommt, dass im privaten Unterstützungsnetzwerk betroffener Frauen Lücken entstehen, etwa weil muttersprachliche Vertrauenspersonen seltener verfügbar sind. Kinder, die ihre Eltern oft bei Übersetzungen unterstützen, fallen mit Blick auf das Thema Gewalt aus. Hinzu kommt, dass auch in den örtlichen Unterstützungseinrichtungen Sprachmittlerinnen und Sprachmittler nicht mehr im gewohnten Umfang zur Verfügung stehen.

Eingeschränkte Lotsenfunktion

Im Jahr 2020 kann das Hilfetelefon seiner Lotsenfunktion ins Hilfesystem nur eingeschränkt gerecht werden. Einrichtungen, die Beratungen vor Ort durchführen, müssen im ersten Lockdown auf telefonische bzw. Online-Beratung umstellen und sind oft schwer erreichbar. Dies hat zur Folge, dass sich Frauen, die im Rahmen der Erstberatung beim Hilfetelefon an örtliche Anlaufstellen verwiesen wurden, sich mit ihren Anliegen erneut an das Hilfetelefon wenden. Darüber hinaus müssen Frauenhäuser insbesondere im ersten Halbjahr ihre Aufnahmen einschränken bzw. umorganisieren. Bewohnerinnen und Mitarbeiterinnen sollen vor Ansteckung geschützt werden, Quarantänesituationen sind zu bewältigen oder zu vermeiden.

Online-Beratung

Die Anzahl der Online-Beratungen steigt 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent. Insbesondere in der ersten Phase des Lockdowns wenden sich 19 Prozent mehr Hilfesuchende vor allem per E-Mail und Termin-Chat an die Beraterinnen des Hilfetelefons. Das Verhältnis zwischen Telefon- und Online-Beratungen bleibt dabei unverändert: 89 Prozent der Ratsuchenden melden sich telefonisch, während sich 11 Prozent für die Online-Beratung entscheiden. Das Telefon ist somit auch während der Corona-Pandemie das bevorzugte Mittel der Kontaktaufnahme. Gleichzeitig stellt die Beratung per E-Mail und Chat gerade in Zeiten häuslicher Enge und Isolation eine wichtige Alternative dar. Viele Frauen berichten, dass sie nicht anrufen können, da sich ihr Partner in unmittelbarer Nähe befindet. Auch ein vertrauliches Gespräch mit Verwandten, Freundinnen und Freunden ist oft nicht möglich.

Fazit

Die Zahlen belegen, welche wichtige Rolle das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ gerade in Krisenzeiten als verlässlich erreichbare Erstanlaufstelle spielt. Gewaltbetroffene Frauen können die Beraterinnen rund um die Uhr auch unter Kontaktbeschränkungen telefonisch und online erreichen und nehmen dies vielfach in Anspruch. Darüber hinaus spricht das Hilfetelefon Menschen an, die sich unabhängig von erlebter Gewalt entlasten möchten. Auch andere Unterstützungsangebote werden im Jahr 2020 stark nachgefragt, allerdings sind diese zum Teil nur eingeschränkt verfügbar. Die Beraterinnen des Hilfetelefons stehen damit häufig vor der Herausforderung, die Beratung für Hilfesuchende in Krisensituationen, die thematisch nicht mit Gewalt gegen Frauen in Verbindung stehen, zu begrenzen, ohne dadurch deren persönliche Krise zu verstärken. Dabei müssen sie sich offen auf jeden einzelnen Kontakt einlassen, um zu klären, ob im Hintergrund nicht doch eine Gewaltproblematik besteht.

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