19.09.2024
Die Warnung vor "Angstorten" wie einsamen Waldstücken oder dunklen Treppenhäusern begleitet viele Frauen von klein auf. Dabei findet sexualisierte Gewalt in der Regel mitten unter uns, in Kneipen, Bussen, auf Festivals oder Dorffesten statt. Die Taten reichen von anzüglichen Bemerkungen bis hin zu körperlicher Übergriffigkeit und sind schwer zu ahnden. Nicht nur die Anonymität im öffentlichen Raum, sondern auch ausbleibende Zivilcourage oder das Unverständnis für die emotionale Not Betroffener schützen die Täter. Sexualisierte Gewalt ist Ausdruck eines strukturellen Problems, das tradierte Rollenzuschreibungen fortsetzt und die Gewalt gegen Frauen relativiert. Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" ermutigt Betroffene, auf ihr Bauchgefühl zu vertrauen und sich nicht mit dem Erlebten abzufinden.
Bilde ich mir das nur ein? Ist das noch Zufall oder schon Absicht? Übertreibe ich? Diese und ähnliche Fragen gehen vielen Frauen, die sexualisierte Gewalt im öffentlichen Raum erleben, durch den Kopf. "Häufig sind Betroffene mit diesen Gedanken allein und halten die Situation einfach irgendwie aus", schildert die auf sexualisierte Gewalt spezialisierte Hilfetelefon-Fachbereichsleiterin Sabine Boldt. Die ausbleibende Reaktion des Umfeldes auf bedrängendes Verhalten kann den psychologischen Effekt noch verstärken: "Es reagiert ja niemand darauf, also muss das wohl in Ordnung sein, was hier gerade passiert", beschreibt Sabine Boldt den Eindruck vieler Betroffener.
Bereits das Hinterherpfeifen, Kommentieren oder Anbaggern kann einen Angriff auf den persönlichen Schutzraum darstellen. "Jede Frau hat unterschiedliche Grenzen. Ausschlaggebend ist immer das eigene Bauchgefühl. Egal in welcher Situation sich eine Frau bedrängt fühlt – ihre persönliche Wahrnehmung ist entscheidend und diese Grenze ist nicht zu bewerten", stellt Sabine Boldt klar.
Doch warum reagieren Betroffene häufig leise und unauffällig? Warum bleibt das Umfeld so oft untätig, wenn Frauen am Nebentisch, beim Einkaufen oder am Badesee belästigt werden? "Im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt werden klassische Rollenzuschreibungen reproduziert: Frauen möchten keine Szene machen oder unangenehm auffallen. Sie bleiben höflich und versuchen, die Situation unauffällig zu klären", beschreibt Sabine Boldt. Solche Rollenzuschreibungen prägen bis heute weite Teile der Gesellschaft. Sie sind eine Ursache dafür, dass Anmachsprüche und Übergriffigkeiten gegenüber Frauen alltäglich sind und in vielen Fällen gerade in der Öffentlichkeit ignoriert werden.
Frauen erleben, dass ihre persönlichen Grenzen durch männliche Täter missachtet werden. Und sie erleben in vielen Fällen, dass das öffentliche Umfeld sie nicht unterstützt und niemand sich einmischt. Sexualisierte Gewalt, Sprüche und Annäherungsversuche scheinen eben dazuzugehören, wenn Frauen sich in der Öffentlichkeit bewegen. Wie es anders laufen könnte, beschreibt eine Hilfetelefon-Beraterin folgendermaßen: "Bei Respektlosigkeiten gegenüber einer Frau im öffentlichen Nahverkehr beispielsweise sollte der ganze Bahnwaggon geschlossen aufstehen, um sich mit Betroffenen solidarisch zu zeigen und zu vermitteln: Das ist nicht in Ordnung. Das Verhaltenstraining dafür wäre schon in der Schule notwendig."
Auch strengere rechtliche Vorgaben könnten dazu beitragen, das System zugunsten von Frauen zu verändern. So steht etwa verbale sexuelle Belästigung – das sogenannte Catcalling – in Ländern wie Frankreich, Belgien, Portugal und den Niederlanden bereits unter Strafe. In Deutschland wird eine Ergänzung des Strafgesetzbuchs bislang nur diskutiert. Dabei können auch verbale Übergriffe gravierende Folgen haben und lange nachwirken.
Das Hilfetelefon ermutigt Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, nicht zu schweigen, sondern sich beraten zu lassen. Betroffene können sich rund um die Uhr kostenfrei an die Beraterinnen des Hilfetelefons wenden und in einem neutralen Rahmen über das Erlebte sprechen. "Jede Beratung verläuft anders. In vielen Fällen ist die Anerkennung der Tat als sexualisierte Gewalt für Betroffene aber ein ganz wichtiger Punkt", schildert die Hilfetelefon-Beraterin. Ratsuchenden Frauen vermitteln sie und ihre Kolleginnen, dass es für grenzüberschreitendes Verhalten und verbale Belästigung keine Rechtfertigung gibt, egal, wie sie sich in einer Situation verhalten haben. Die Schuld für sexualisierte Gewalt liegt immer beim Täter. Gleichzeitig ist das Empowerment Betroffener ein zentraler Grundsatz der Beratungsarbeit: "Wie hättest du gerne reagiert? Was würdest du in Zukunft gerne tun? Solche Fragen können dabei unterstützen, die eigene Erstarrung abzuschütteln und ganz aktiv die eigene Wut rauszulassen."