13.05.2024
Für Betroffene von Gewalt ist die Anzeige des Täters häufig mit der Sorge vor Stigmatisierung, sozialer Ausgrenzung und der Bedrohung durch den Partner verbunden. Die anonyme Spurensicherung, die Spuren und Verletzungsfolgen objektiv dokumentiert, gibt Frauen nach einer Tat Zeit, um das Für und Wider einer Strafanzeige ohne Handlungsdruck abzuwägen. Sie gewährleistet, dass in einem möglichen Prozess auch dann noch auf die gesicherten Spuren zurückgegriffen werden kann, wenn sich gewaltbetroffene Frauen erst Wochen, Monate oder Jahre nach der Tat zu einer Anzeige des Täters entschließen.
Gewaltbetroffene Frauen haben Anspruch auf Hilfe – ohne zu weiteren Schritten gedrängt zu werden. "Gerade in Fällen von Häuslicher Gewalt ist das von Vorteil", betont Prof. Dr. Sibylle Banaschak, die Leiterin der rechtsmedizinischen Ambulanz der Uniklinik Köln. "Denn die Anzeigenerstattung, das Strafverfahren und die mögliche Verurteilung des Partners bzw. Ex-Partners können enorme Auswirkungen auf das enge soziale Umfeld haben." Die Sorge vor den Reaktionen im Familien- und Freundeskreis oder in der Nachbarschaft kann dazu führen, dass betroffene Frauen sich erst lange nach einer Tat zu einer Strafanzeige entschließen. Die anonyme Spurensicherung ermöglicht es ihnen, ihren eigenen Weg in ihrem individuellen Tempo zu gehen, denn die gesicherten Spuren gehen nicht verloren.
Ein weiterer Vorteil der Tatfolgen-Dokumentation: Die Spurensicherung erfolgt vertraulich. "Der gängige Begriff ‚anonyme Spurensicherung‘ rührt daher, dass die sichergestellten Spurenträger und Abstriche keine Namen tragen und anonym bzw. chiffriert aufbewahrt werden", so Banaschak. "Ich bevorzuge jedoch die Bezeichnung ‚vertrauliche Spurensicherung‘, wie sie auch im Gesetzestext verankert ist. Denn es geht um ein durch und durch vertrauliches Verfahren innerhalb des Gesundheitswesens, bei dem man sich auf die Schweigepflicht verlassen kann". Gewaltbetroffene Frauen können sicher sein, dass weder das soziale Umfeld noch die Ermittlungsbehörden über ihre persönliche Entscheidung für eine Spurensicherung oder über deren Ergebnisse informiert werden, bevor sie sich tatsächlich selbst für ein Strafverfahren entscheiden.
Die anonyme bzw. vertrauliche Spurensicherung findet in einer Arztpraxis oder Klinik statt. Sie umfasst eine Bestandsaufnahme und Dokumentation akuter Verletzungen sowie die Sicherung von Spuren wie beispielsweise Sperma oder Gewebe. Im Rahmen der Spurensicherung werden die Frauen ärztlich untersucht. Sind nach einer sexualisierten Gewalttat gynäkologische Abstriche erforderlich, wird wie bei einer regulären Vorsorgeuntersuchung verfahren. Prof. Dr. Sibylle Banaschak erläutert, warum es sinnvoll sein kann, der Untersuchung des ganzen Körpers nach oberflächlichen Verletzungen zuzustimmen: "Man kann sich selbst nicht auf den Rücken schauen, doch auch die Dokumentation von Verletzungen am Kopf, von Griffspuren an der Oberarminnenseite oder von Hämatomen an Oberkörper und Brust ist relevant. Diese Verletzungen sind in der Regel nicht behandlungspflichtig – doch sie sind ein wichtiger Indikator für das, was passiert ist." Eine solche Untersuchung kann mitunter bis zu zwei Stunden in Anspruch nehmen. "Für viele Frauen stellt dies eine große Hürde dar", erklärt Christine Weyh, Fachbereichsleiterin beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" und dort zuständig für den Bereich Gesundheit. "Sich im Rahmen der Dokumentation nochmals mit dem Gewalterlebnis zu konfrontieren, verbunden mit der körperlichen Entblößung, ist eine zutiefst unangenehme Situation. Unsere Beraterinnen empfehlen Ratsuchenden daher auch, wenn möglich eine Person ihres Vertrauens mitzunehmen."
Das Recht auf vertrauliche Spurensicherung ist seit 2020 in Abs. 1 Satz 6 im Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB V) verankert. Zwar sind die Umsetzungsrichtlinien noch nicht einheitlich gestaltet, die Verhandlungen zwischen Krankenhäusern, Bundesländern und den gesetzlichen Krankenkassen laufen, trotzdem müssen die Patientinnen nicht selbst für die vertrauliche Spurensicherung aufkommen, sie ist für sie kostenfrei. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise wird die Untersuchung durch die Kliniken über einen Notfallschein abgerechnet, für die Lagerung der Spuren kommt anteilig das Land auf, schildert Prof. Dr. Sibylle Banaschak. Sie hofft dennoch, dass die übergangsweisen, nicht kostendeckenden "Notlösungen" in den verschiedenen Bundesländern bald der Vergangenheit angehören. Baden-Württemberg und Niedersachsen zeigen schon heute, wie es künftig bundesweit funktionieren kann: Hier wurde der Anspruch aller gesetzlich Versicherten auf eine vertrauliche Spurensicherung am Körper nach sexualisierter Gewalt und Misshandlung bereits umgesetzt.
Obwohl die Untersuchungszahlen der vertraulichen Spurensicherung steigen, sind die Hürden für viele Betroffene weiterhin hoch. "Es halten sich viele Vorurteile und gesellschaftliche ‚Vergewaltigungsmythen‘ nach dem Motto ‚Was geht sie auch mit ihm mit?‘. Dazu kommt die Scham betroffener Frauen und die Angst, dass andere Menschen mit dem Finger auf sie zeigen", schildert Banaschak. Umso wichtiger sei es, Ängste und Vorurteile abzubauen, zu informieren und aufzuklären. "Beratungsangebote sind in diesem Zusammenhang entscheidend. Keine Frau muss sich schämen. Die vertrauliche Spurensicherung ist ein wichtiges Instrument, um sich selbst helfen zu können."
Die kostenfreie anonyme Spurensicherung kann umgehend nach einer Gewalttat erfolgen, ist aber auch später noch sinnvoll. Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" informiert Betroffene sowie deren soziales Umfeld kostenfrei und vertraulich, zu jeder Tages- und Nachtzeit darüber, was die vertrauliche Spurensicherung leistet und welche Praxen und Kliniken in ihrer Region die Leistung anbieten. Wie gewaltbetroffene Frauen ihren Weg im Anschluss an die Beratung aber auch im Anschluss an die Spurensicherung weiter gestalten, darüber entscheidet jede gewaltbetroffene Frau frei und eigenständig.