Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

13.12.2021

Empowerment gewaltbetroffener Frauen – Selbstbestimmt handeln und leben

Wie die Beraterinnen des Hilfetelefons Frauen „empowern“

Power, Energie, Kraft, Ermächtigung, Selbstbefähigung – mit dem englischen Begriff „Empowerment“ verbindet man große Worte und Gedanken. Aber was genau bedeutet Empowerment? Oder anders gefragt: Wie lassen sich Frauen „empowern“, sodass sie selbstbestimmt und handlungsfähig ihr Leben gestalten? Zwei Beraterinnen schildern eindrucksvolle Beispiele. Empowerment zählt zu den Beratungsgrundsätzen des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“.

Unterstützende Menschen aktivieren

Einen wichtigen Ansatzpunkt für Empowerment stellt das soziale Umfeld der Betroffenen dar. Die Beraterinnen fragen dieses im Gespräch bewusst ab. Welche Menschen aus der Familie, aus dem Freundeskreis, aus der Nachbarschaft oder dem Berufsleben kämen als Unterstützende infrage? Könnten die zu bewältigenden Aufgaben vielleicht auf mehrere Schultern verteilt werden? Die Antworten sind stets individuell – ein weiteres Beispiel: Für eine von häuslicher Gewalt betroffene Anruferin kann beispielsweise die Kinderärztin als Vertrauensperson gefunden werden. Wegen der Erkrankung ihres Kindes sucht sie regelmäßig die Praxis auf. Die Betroffene bestätigt, dass sie diesen Kontakt für sich leicht aktivieren könne, ohne dass ihr Partner Verdacht schöpfe.
 

Ein Beispiel: Kärtchen zur Selbstermächtigung

Eine junge Anruferin erklärt mit monotoner Stimme, dass sie sehr belastet und depressiv sei. In ihrer Familie erfuhr sie jahrelang Gewalt. Das Gewalt ausübende Familienmitglied habe plötzlich wieder Kontakt zu ihr aufgenommen, weshalb sie sich aktuell in einer Krise befinde. Zur ohnehin bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung kam eine erneute Traumatisierung. Die Beraterin fragt sie, ob sie sich bereits therapeutische Unterstützung gesucht hätte, was sie bejaht. Allerdings hätte sie dort das Gefühl gehabt, dass ihr die Schuld zurückgeschoben wurde – es habe ein sogenanntes Victim Blaming stattgefunden. Auch in ihrem sozialen Umfeld fänden sich weder verständnisvolle Freundinnen und Nachbarn noch Kolleginnen und Verwandte. Sie sähe für sich keinen Ausweg. Die Beraterin spiegelt verständnisvoll die Ohnmacht, die die Anruferin aufgrund ihrer Situation empfindet, und fragt, was ihr denn helfen würde. Plötzlich wird die Ratsuchende lebhafter: Mit klaren Worten beschreibt sie, dass sie sich Stabilisierung und Ruhe von außen wünsche; sie brauche die Ermutigung, dass sie ihren Weg schaffen kann.

Im weiteren Gesprächsverlauf gelingt es, gemeinsam die persönlichen Stärken der Anruferin herauszuarbeiten. Kraftspendende Sätze wie „Du schaffst es“, „Du hast schon so vieles durchgestanden“ und weitere notiert die Frau dann auf Kärtchen und verteilt diese in ihrem Zimmer. Mit diesen Mutmachern gelänge es ihr, sich selbst zu beruhigen und die traumatischen Erfahrungen nicht mehr im Fokus zu haben – so ihre Worte zum Abschluss der Beratung.

Innere Kräfte sammeln

Zusätzlich spielen die inneren Ressourcen eine wesentliche Rolle, um Frauen zu „empowern“. Die Beraterinnen wirken darauf hin, dass die Ratsuchenden ihre eigenen Stärken und Fähigkeiten erkennen und negative Denkschemata durchbrechen. Dafür ist viel Fingerspitzengefühl notwendig. Man muss gut zuhören, sich einfühlen können und sehr vorsichtig agieren. „Meist sind es kleine Dinge und kleine Schritte, die mitunter zeitversetzt eine große Wirkung entfalten können“, so eine Beraterin. „Wichtig ist, dass wir genau die Ansatzpunkte finden, die zur Betroffenen passen.“ Was sind deren Bedürfnisse, was tut ihr gut? Ein Spaziergang in der Natur, eine Tasse Tee? Die Kinder mal abgeben? Musik hören oder die Lieblingsserie anschauen? Zeit allein oder mit Tieren verbringen? Autogenes Training, Fantasiereisen? Oder einfach das Bewusstmachen, dass die Anruferin nicht die Einzige ist, die Gewalt erlebt, sondern dass viele Frauen in unserer Gesellschaft betroffen sind?
 

Ein Beispiel:  Kinderhörspiele zur Beruhigung

Eine Anruferin offenbart, dass sie nicht wüsste, wie sie die Nacht überstehen soll. Als Kind erlebte sie sexualisierte Gewalt und diese Erinnerungen suchten sie immer wieder heim – insbesondere in der dunklen Jahreszeit. Sie fühle sich hilflos wie als Kind in ihrem Zimmer und wünsche sich eine Handhabe, wie sie sich selbst aus dieser nächtlichen Krisensituation befreien könne. Im intensiven Gespräch kann die Beraterin gemeinsam mit der Ratsuchenden positive Kindheitserinnerungen finden. Ganz konkret handelt es sich dabei um Kinderhörspiele, die ihr seit jeher ein wohliges Gefühl der Geborgenheit geben. Als Erwachsene will sie sich dieses Mittel jedoch zunächst nicht zugestehen. Die Beraterin bestärkt sie, ihre CD-Sammlung samt Player herauszusuchen und ein Hörspiel als kraftspendende Ressource anzunehmen.

Sich Hilfe zu suchen, ist eine Stärke

„Unter Empowerment verstehe ich eine Art Hilfe zur Selbsthilfe“, fasst eine Beraterin des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ zusammen. Was genau eine Person letztlich „empowert“, sei völlig individuell. Die Zielsetzung aller Maßnahmen sei jedoch dieselbe: Frauen sollen aus der Opferrolle heraustreten, unabhängig handeln und eine selbstbestimmte Lebensführung starten können. „Ein erster starker Schritt ist bereits der Anruf beim Hilfetelefon ‚Gewalt gegen Frauen‘!“ Wer nach einem anstrengenden Tag mit Stress im Beruf, Kümmern um die Kinder, Arztterminen und Haushalt von sich aus beim Hilfetelefon anrufe, zeige Mut und Kraft. „Und genau das spiegeln wir einer Ratsuchenden auch zurück.“
 

Ein Beispiel: Ehemaliger Chef als Unterstützer

Eine Anruferin berichtet von ständiger sexueller Belästigung durch einen Kollegen. Sie arbeite in einem kleinen Betrieb, in dem es schwierig sei, den richtigen Ansprechpartner für diese Problematik zu finden. Auch ihr direkter Vorgesetzter verhalte sich nicht neutral. Während des Beratungsgesprächs stellt sich heraus, dass die Anruferin bereits seit vielen Jahren betriebszugehörig ist und den Senior-Chef, der nurmehr hin und wieder noch nach dem Rechten sieht, gut kennt. Die Beraterin fragt, ob dieser möglicherweise als Ansprechpartner für sie infrage käme. Die Betroffene bejaht dies und ist erleichtert, dass sich ein Lösungsweg auftut. Zu ihm bestehe nach wie vor ein gutes Vertrauensverhältnis und ein Gespräch mit ihm sei eine gute Idee. So wird der Senior-Chef im Sinne des Empowerments zur wichtigen Ressourcenperson für die Betroffene.

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