15.05.2019
"Schauen Sie mal aus dem Fenster, wie schön grün hier alles ist", sagt Dr. Cornelia Strunz. Der Zugang zum Krankenhaus Waldfriede in Berlin-Zehlendorf ist gesäumt von gepflegtem Rasen, Bäumen und Blumenbeeten. "Da vorne am Eingang hat der Gärtner Stiefmütterchen gepflanzt", freut sie sich. "Der gibt sich immer so viel Mühe." Von der ersten Begrüßung an strahlt die Ärztin gute Laune aus. Bei ihrer Arbeit begegnet Cornelia Strunz viel Leid und Tränen, denn die Frauen, die zu ihr in die Sprechstunde kommen, haben Schreckliches erlebt. Den Blick für die schönen kleinen Dinge hat sich die Chirurgin dennoch bewahren können.
Weibliche Genitalverstümmelung (Female genital mutilation, FGM) ist eine archaische Tradition, die heute noch in etwa 30 Staaten praktiziert wird. Die meisten davon liegen in Afrika. Dabei werden den meist vier- bis 14-Jährigen die Klitoris und die Schamlippen oder Teile davon entfernt. In der Regel geschieht dies bei vollem Bewusstsein, ohne Betäubung und oft unter lebensbedrohlichen hygienischen Bedingungen mit Messern, Rasierklingen oder Glasscherben. Viele Mädchen sterben bei der Prozedur oder an deren Folgen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen sind. Die Zahl der in Deutschland lebenden Frauen, an denen diese grausame Praxis vollzogen wurde, wird auf 50.000 bis 70.000 geschätzt.
Das Desert Flower Center (DFC) im Krankenhaus Waldfriede ist Kooperationspartner der Desert Flower Foundation von Waris Dirie, die mit ihrem Buch "Wüstenblume" weltweit auf das Thema FGM aufmerksam gemacht hat. Das DFC Waldfriede bietet betroffenen Frauen ein weltweit einzigartiges, ganzheitliches Behandlungskonzept mit einem Team aus Chirurginnen und Chirurgen sowie psychologischen, sozialen und seelsorgerischen Beraterinnen und Beratern. Cornelia Strunz leitet die ärztliche Sprechstunde. "Zu den unvorstellbaren Qualen, die die Mädchen während der Verstümmelung erleiden, kommen viele Folgeschäden", berichtet die Chirurgin. Dazu zählen neben den körperlichen Folgen auch psychische Probleme wie Angst- und Panikattacken, Verhaltensstörungen und Depressionen, um die sich das multiprofessionelle Team kümmert.
Zu den physischen Folgen gehören chronische Entzündungen, Fisteln und Schmerzen im Genitalbereich, Inkontinenz sowie eingeschränkte sexuelle Empfindungsfähigkeit. Es gibt viele verschiedene Arten der Genitalverstümmelung. Besonders bedrohlich sind die Folgen der sogenannten Infibulation, bei der nach Entfernen der Schamlippen die Wunden zusammenwachsen oder zugenäht werden und nur eine kleine Öffnung verbleibt. Einige der Folgeschäden können im DFC Waldfriede, das zum Zentrum für Darm- und Beckenbodenchirurgie des Krankenhauses gehört, operativ behandelt werden. Chefarzt Dr. Roland Scherer und sein Team behandeln unter anderem Vernarbungen, Fisteln, Inkontinenz und Verengungen der Scheide. Dr. Uwe von Fritschen, Chefarzt der Klinik für Plastische Chirurgie am Helios Klinikum Emil von Behring, bietet am DFC zudem wiederherstellende Operationen, mit denen sich Klitoris und Schamlippen rekonstruieren lassen. Dadurch soll die Frau die Möglichkeit erhalten, eine schmerzfreie und lustvolle Sexualität zu erleben. Seit 2013 haben sich mehr als 500 Frauen an das Desert Flower Center gewandt, 160 davon wurden operiert.
"Am Anfang habe ich mit jeder Frau, die in die Sprechstunde kam, mitgeweint, weil mir jedes Schicksal so nahe gegangen ist", erzählt Cornelia Strunz. "Mittlerweile kann ich damit gut umgehen und weine viel weniger. Auch weil ich merke, wie dankbar die Frauen sind." Durch die Verstümmelung, berichtet die Ärztin, fühlen sich viele Frauen ihrer Weiblichkeit beraubt. "Viele nehmen mich nach der Operation tränenüberströmt in den Arm, nicht weil sie Schmerzen haben, sondern weil sie so erleichtert sind."
Für viele Frauen ist es ein langer Weg, sich überhaupt auf eine Operation einzulassen. Um den Zugang so niedrigschwellig wie möglich zu gestalten, bietet das DFC eine anonyme Selbsthilfegruppe, bei der sich Betroffene einmal monatlich austauschen können. "Manche Frauen kommen über Monate zu uns in die Gruppe, bevor sie sich in die Sprechstunde trauen", sagt Farhia Mohamed, die zum Betreuerinnenteam gehört. Wie die meisten Frauen, die sich behandeln lassen, stammt sie aus Somalia, einem Land, in dem fast jedes Mädchen FGM erleidet.
Farhia Mohamed betont, dass es im ersten Gespräch wichtig sei, nicht zu viele Fragen zu stellen. "Nicht gleich sagen: Was haben sie Dir angetan? Welche Verletzungen hast Du? Wie konnte Deine Mutter das zulassen?" Denn auch wenn es in Europa schwer vorstellbar sei, in Somalia, Guinea oder Sudan sei FGM ein alltägliches Phänomen. Im ersten Kontakt gehe es vorrangig darum, Vertrauen herzustellen. "In der Selbsthilfegruppe muss niemand über seine Verletzungen sprechen, wir reden über alles mögliche, hören Musik, tanzen und oft kochen wir danach noch bei mir zu Hause", erzählt Farhia Mohamed.
"Es ist wichtig, nicht zu verurteilen, auch nicht die Eltern", ergänzt Cornelia Strunz, die ohne Arztkittel in die Selbsthilfegruppe kommt und von vielen einfach Conny genannt wird. "Keine Frau sagt: ‚Meine Mutter hat mir etwas Böses angetan’. Sie würden ihre Eltern eher verteidigen, weil sie es nicht besser wussten." Ohne Beschneidung der weiblichen Geschlechtsorgane gehöre die Frau nicht zur Gemeinschaft, könne nicht heiraten und keine Familie gründen.
In dem kleinen Büro von Cornelia Strunz klingelt das Telefon. "Ich muss kurz rangehen", unterbricht sie das Gespräch. Wenn möglich geht sie immer gleich selbst ans Telefon. "Das war eine Sozialarbeiterin, die sich über unser Angebot informiert hat", sagt sie nach dem Telefonat. Viele Betroffene kämen über Sozialarbeiterinnen zum DFC, andere kämen aufgrund einer Empfehlung von einer Einrichtung wie dem Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen", berichtet die Ärztin. "Das ist sehr wichtig für uns, denn die wenigsten Betroffenen wissen, dass es unser Center oder überhaupt eine Behandlungsmöglichkeit für sie gibt."
Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" bietet Beratung auch zum Thema Genitalverstümmelung – für betroffene Frauen, Menschen aus deren sozialem Umfeld und Fachkräfte. Mit seinem mehrsprachigen, jederzeit verfügbaren und barrierefreien Beratungsangebot ergänzt das Hilfetelefon regionale Unterstützungsangebote. Bei Bedarf vermitteln die Beraterinnen Hilfesuchende an örtliche Fachberatungsstellen oder an Einrichtungen wie das Desert Flower Center Waldfriede. In einzelnen Fällen können die Beraterinnen auch eine Konferenzschaltung ermöglichen, um Hilfesuchende direkt mit einer weiterführenden Anlaufstelle zu verbinden.
Auch lotsen viele Frauen, die in Waldfriede behandelt wurden, andere Frauen aus ihrer Community dorthin. In Bezug auf FGM werden sie zu Botschafterinnen für ein Umdenken, sagt Conny Strunz. "Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Frau, die wir hier operiert haben, und die nur dank der Operation ein Kind zur Welt bringen konnte. Sie besuchte uns mit ihrer kleinen Tochter und sagte: ‚Niemals würde ich ihr die Schmerzen und Qualen antun, die ich damals erleiden musste.’"