24.04.2023
Semesterbeginn Herbst 2022 an der Universität Bielefeld. Die "Ersti-Woche" der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften hat Tradition: Studierende sollen Punkte bei einer Party-Tour sammeln – und dabei "Aufgaben" wie diese lösen: "Flirte in einer Kneipe mit dem Barkeeper/Service (die Handynummer gibt 2 Extrapunkte). Macht einen Kusskreis (mindestens 3 Personen). Tragt alle Mädels 100 Meter (egal wie!)." Nicht nur der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) protestierte gegen das übergriffige Verhalten, die Empörung in der Öffentlichkeit wie an der Hochschule war ebenfalls groß.
Das Beispiel in Bielefeld ist kein Einzelfall, wie das europäische Forschungsprojekt "UniSAFE" zeigt. Es forscht über Landesgrenzen hinweg zu geschlechtsbezogener Gewalt an Europas Universitäten. Im November 2022 belegte eine "UniSAFE"-Studie, dass "geschlechtsbezogene Gewalt ein systemisches Problem ist, das wissenschaftliche Einrichtungen nicht weniger betrifft als andere Teile der Gesellschaft". Übergriffe an Hochschulen unterscheiden sich nicht von denen anderer beruflicher Kontexte. Sie reichen von sexistischen Bildern in Unterrichtsmaterialien über zweideutige Kommentare und Witze in Lerngruppen. Ebenso geht es um unangemessene Fragen zum Privatleben sowie körperliche Übergriffe oder Nötigung im Umgang zwischen und unter Studierenden, Lehrenden und Angestellten.
"Die ,UniSAFE‘-Ergebnisse belegen mit Zahlen, was gefühlt immer schon an den Hochschulen wahrgenommen wurde", sagt Dr. Solveig Simowitsch. Sie ist Sprecherin der Kommission "Sexualisierte Diskriminierung und Gewalt" bei der Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen e. V. (bukof) und leitet das Referat Chancengleichheit und Familie an der Universität zu Lübeck. Für die bukof stehen die Hochschulen in der Pflicht, ihrer Verantwortung nachzukommen. "Sie sind Vorbilder. Als Arbeitgeberinnen haben sie gesetzlich eine klare Beschwerde-, Präventions- und Fürsorgepflicht für ihre Beschäftigten und Studierenden", sagt Solveig Simowitsch. Zudem zeigten sich Hochschulen aufgrund bestehender Betreuungs- und Abhängigkeitsverhältnisse besonders anfällig für Machtmissbrauch. Die bukof fordert daher eine schnelle Enttabuisierung, mehr Sensibilisierung und Aufklärung – unter anderem durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation.
Das geschieht beispielsweise an der Universität Heidelberg. "Die Debatten #MeToo und auch #IchbinHannah haben in die Hochschulen hineingewirkt", sagt Charlotte von Knobelsdorff, Leiterin der Anlaufstelle der Universität Heidelberg für die Themen Vereinbarkeit, Vielfalt und Gleichstellung. "Das Bewusstsein dafür, dass auch an Hochschulen Macht missbraucht werden kann, ist gewachsen." Wie dem entgegengesteuert werden kann? "Prävention, Information und klare Strukturen in der Personal- und Organisationsstruktur", nennt Charlotte von Knobelsdorff als wichtige Stichworte.
Der "freie zusammenschluss von studierendenschaften" (fzs) e. V. fordert allgemeingültige, hochschulweite Vereinbarungen gegen sexualisierte Diskriminierung und Gewalt, die für alle Hochschulangehörigen gelten und bei Betreten des Campus gültig werden. Das soll den Hochschulen eine Handhabe bei Zuwiderhandlung ermöglichen – auch unabhängig von einer Strafverfolgung seitens der Behörden. Der fzs setzt sich daher für eine "Selbstverpflichtung seitens der Studierenden und der Beschäftigten" ein, die bei der Immatrikulation bzw. Vertragsunterzeichnung unterschrieben werden soll.
Das Ersti-Wochenende an der Universität Bielefeld hat den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) dazu bewogen, klare Signale zu setzen und verbindliche Selbstverpflichtungen zu erarbeiten. "Wir haben gemeinsam mit allen Fachschaften ein ,Awareness-Konzept‘ erarbeitet, dass noch im April dem Studierendenparlament vorgelegt wird", sagt die hochschulpolitische AStA-Referentin Ida Latendorf<. "Es ist vorgekommen, dass erfahrene Fachschaftler ihr Machtgefälle im Umgang mit Erst-Semestern zu ihren Gunsten ausnutzen. Erstis wurden auf individueller sowie systematischer Ebene immer wieder auch Opfer sexualisierter Gewalt. Das soll nicht wieder passieren; deshalb verpflichten sich die Fachschaften selbst, Fortbildungen zu belegen. Das Konzept des AStA an der Uni Bielefeld sieht unter anderem vor, finanzielle Mittel für Erst-Fahrten und Veranstaltung zukünftig an die Akzeptanz von Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt zu koppeln.
Drei weitere Beispiele: