Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

20.7.2018

"Jede geflüchtete Frau bringt ihre eigene Geschichte mit – darauf müssen wir sensibel reagieren" – Gespräch mit Dr. Delal Atmaca von DaMigra

Seit Jahren setzt sich der Dachverband der Migrantinnenorganisationen in Deutschland (DaMigra e.V.) für Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrung ein. Im Interview mit dem Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" spricht Geschäftsführerin Dr. Delal Atmaca über geschlechtsspezifische Gewalt und den Schutz gewaltbetroffener Frauen mit Fluchterfahrung. Unterstützungseinrichtungen rät sie, sich interkulturell zu öffnen und ihr Personal zu schulen, um noch mehr Betroffene erreichen und gender- sowie kultursensibel beraten zu können.

Seit 2014 setzt sich DaMigra e.V. dafür ein, Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrung eine Stimme zu geben. Dabei geht es auch um den Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt. Welches Fazit ziehen Sie nach vier Jahren Arbeit in diesem Bereich?

Nach wie vor muss unglaublich viel getan werden, damit Frauen* und Kinder effektiv vor Gewalt – insbesondere vor sexualisierter Gewalt – geschützt werden können. Es hat sich noch immer nicht das Bewusstsein durchgesetzt, dass der Schutz vor Gewalt ein Recht ist, was mit Selbstverständlichkeit für alle Frauen* unbedingt gewährleistet werden muss. Das betrifft Frauen* mit Fluchtgeschichte besonders. Geht es um Frauen*rechte und Sicherheit, wird ihre Situation oft nicht ausreichend mitgedacht und thematisiert. Es bedarf hier der Entwicklung einer grundsätzlichen Solidarität, die alle Frauen* miteinschließt. 

Auch sind konkrete, rechtliche Maßnahmen nötig, um Frauen* effektiver vor Gewalt schützen zu können. Beispielsweise ist die Aufnahme in ein Frauenhaus für geflüchtete Frauen* mit großen Hindernissen verbunden. Weil stets unklar ist, ob der Staat für den Aufenthalt einer solchen Frau* bezahlt, reagieren Frauenhäuser teils zurückhaltend, wenn es um deren Aufnahme geht. Hier müssen unbedingt rechtliche Anpassungen vorgenommen und eine Änderung der Praxis herbeigeführt werden.

Das gilt auch im Bereich der Anerkennung geschlechtsspezifischen Asyls. Zu geschlechtsspezifischen Asylgründen zählen beispielsweise sexualisierte Gewalt oder weibliche Genitalverstümmlung. Viele Frauen* wissen gar nicht, dass sie diese Gründe geltend machen können. Wenn es dazu kommt, wird von den Frauen* im Rahmen der Anerkennungsverfahren häufig verlangt, diese Erfahrungen detailliert darzulegen – meist ohne Begleitung durch psychologisch geschultes, mehrsprachiges, diversitäts- und geschlechtersensibles Personal. Diese Zustände sind unzumutbar für die Frauen*, von denen viele nicht über die erlittenen Demütigungen und Misshandlungen reden können oder wollen.

Geschultes Personal ist ein wichtiges Stichwort: Wie können Unterstützungs- und Beratungsangebote hierzulande geflüchtete Frauen mit Gewalterfahrung erreichen und auf welche besonderen Bedürfnisse müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingehen?

Zunächst einmal müssen sich Institutionen, die Unterstützung und Beratung anbieten, selbst interkulturell öffnen. Das wird auch zu einem besseren Zugang zu geflüchteten Frauen* beitragen.

Generell bedarf es einer Schulung des Personals, um eine Sensibilisierung für die besonderen Erfahrungen der Frauen*, die sie im Kontext mit ihrer Flucht gemacht haben, herzustellen und damit Berater*innen Hintergrundwissen sowie Methoden für einen gender- und kultursensiblen Umgang mit den jeweiligen Situationen der Frauen* erlernen.

Dabei darf jedoch nicht vergessen werden: Für den Umgang mit betroffenen Frauen* gibt es kein Patentrezept – jede* bringt ihre eigene Geschichte mit. Dementsprechend ist es notwendig, dass Personen, die im Bereich Unterstützung und Beratung tätig sind, die individuelle Biographie und die persönlichen Bedürfnisse der jeweiligen Frau* anerkennen und sensibel auf diese reagieren. Ein Schubladendenken muss also unbedingt vermieden werden.
 

Die EU hat sich kürzlich auf eine Verschärfung der Asylpolitik geeinigt. Beispielsweise sollen Aufnahmelager außerhalb der EU eingerichtet werden. Welche Auswirkungen hätten die neuen Regelungen für gewaltbetroffene Frauen mit Fluchterfahrung?

Die Aufnahmelager lehnen wir von DaMigra e.V. ab. Solche Maßnahmen sind in keiner Weise eine geeignete Antwort auf die humanitäre Katastrophe, die an Europas Außengrenzen, sowie auch innerhalb von Europa, stattfindet.

Dabei ist völlig klar, dass die Sicherheit der betroffenen Menschen in solchen Lagern außerhalb der EU nicht gewährleistet werden kann. Das betrifft vor allem Frauen* und Kinder. Sie stellen eine besonders gefährdete Gruppe dar, auch und vor allem in solchen Aufnahmelagern. Viele von ihnen haben bereits Gewalterfahrungen machen müssen. Sie brauchen Schutzräume und eine spezielle Betreuung durch psychologisch geschultes, gendersensibles Personal.

Auch in Unterkünften innerhalb der EU-Länder, also in einem rechtsstaatlichen Umfeld, kann die Sicherheit von Frauen* und Kindern nicht gewährleistet werden. Es gibt kein umfassendes Konzept zur Gewaltprävention. Wie sieht die Situation dann erst in Aufnahmelagern außerhalb der EU aus? Diese Orte werden zu rechtsfreien Räumen. Humanitäre Standards umzusetzen – dazu besteht weder die Kapazität noch das Interesse.


Vor kurzem veranstalteten Sie zusammen mit Anwältinnen ohne Grenzen e.V. die Konferenz "Frau & Flucht – Auf der Suche nach einem Leben in Würde und Freiheit". Welches waren die wichtigsten Erkenntnisse? Und welche Forderungen haben Sie formuliert?

Eine wichtige Erkenntnis war zunächst, dass Frauen* in Konflikt- und Krisengebieten immer wieder als Kriegsbeute herhalten müssen. Den Frauen*, die in solchen Kontexten schreckliche Gewalt erleben und die dann noch den Mut finden darüber zu sprechen, muss zugehört werden. Was sie erzählen, betrifft uns alle.

Auf unserer Konferenz haben wir eine Reihe von Forderungen formuliert. Dazu gehört beispielsweise die uneingeschränkte Zulassung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte. Denn unter der Einschränkung des Familiennachzugs leiden Frauen* und Mädchen* besonders. Sie verbleiben in den Krisen- und Konfliktgebieten in einer lebensgefährlichen Situation oder aber sie fliehen über unsichere Fluchtrouten – wiederum mit dem Risiko, auf dem Weg Opfer sexualisierter Gewalt zu werden oder sogar ihr Leben zu verlieren. Eine andere Forderung war die Anerkennung des geschlechtsspezifischen Asyls durch eine Änderung der Praxis sowie auch eine konsequente Umsetzung der Istanbul-Konvention.


Die promovierte Volkswirtschaftlerin Dr. Delal Atmaca ist Geschäftsführerin und beratende Stimme des Vorstands von DaMigra e.V. Der Dachverband der Migrantinnenorganisationen in Deutschland setzt sich unter anderem für mehr Schutz vor sexueller Belästigung und für den Abbau von Benachteiligung von Frauen ein. DaMigra agiert seit 2014 als bundesweiter herkunftsunabhängiger und frauenspezifischer Dachverband von Migrantinnenorganisationen.

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