Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

14.06.2022

Gewalt und Behinderung: Welche Probleme die Covid-19-Pandemie für viele Frauen mit sich brachte

Kerstin Lindsiepe, Geschäftsführerin bei der „frauenBeratung nürnberg“, spricht über Vereinsamung, Schutzmasken und individuellen Lösungen

Sie ist Diplom-Pädagogin, Beraterin und eine der beiden Geschäftsführerinnen der „frauenBeratung nürnberg“, die von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffene Frauen und Mädchen unterstützt. Im Gespräch mit dem Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ berichtet Kerstin Lindsiepe aus dem Beratungsalltag während der Covid-19-Pandemie. Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen – aber auch die Beraterinnen selbst – wurden vor ungeahnte Herausforderungen gestellt. „Die Rahmenbedingungen für Betroffene waren völlig unterschiedlich“, beginnt Lindsiepe, „wir mussten und wollten individuelle Lösungen für sie finden.“

Schnelle Entscheidungen treffen: „Walk und talk“

„Als kleiner Verein mit einem engagierten sechsköpfigen Beraterinnenteam waren wir in der glücklichen Lage, in der Coronazeit sehr flexibel und schnell agieren zu können“, betont die Geschäftsführerin. Lediglich zwei Wochen zu Pandemiebeginn im Jahr 2020 war die Nürnberger Beratungsstelle, die auch telefonisch und online berät, komplett geschlossen. „Danach haben wir die für Betroffene so wichtigen persönlichen Gespräche einfach ins Freie verlagert!“ Bei Spaziergängen oder auf Parkbänken, für die extra Sitzkissen angeschafft wurden, konnten die Beraterinnen auch während der Lockdowns ihrer Tätigkeit nachgehen und für Hilfesuchende da sein.

Probleme durch Maskenpflicht, geringe Mobilität und Videokonferenzen

„Die Corona-Pandemie war zwar nicht schuld an neuen Gewaltformen, aber sie wirkte wie ein Brandbeschleuniger, denn die Gewalt wurde schwerer.“ Laut Lindsiepe kamen zu den bestehenden Gewaltthemen neue Problematiken hinzu, wovon Frauen mit Behinderung oder Beeinträchtigung besonders betroffen waren. So gestaltete sich zum Beispiel das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung als schwierig: Gehörlose konnten nicht mehr von den Lippen ablesen, Frauen mit Nervenstörungen im Gesicht war es nicht möglich, eine Maske zu tragen. Nicht zuletzt äußerten Frauen, dass sie durch die Maske an eine gewalttätige Hand erinnert würden, die ihnen über Mund und Nase gehalten wurde. Die Beraterin erklärt: „Jede Ratsuchende brachte ihre persönliche Problemlage mit, die es zu bewältigen galt.“

Ein zusätzliches Problem sei auch die eingeschränkte Mobilität für Frauen mit körperlichen Behinderungen gewesen, etwa wenn der Fahrdienst pandemiebedingt nicht mehr verfügbar war. Dann wurde das persönliche Gespräch in der Beratungsstelle durch eine Online-Beratung per Videokonferenz ersetzt. Eine gute Lösung? „Ja, aber nicht für alle Frauen“, sagt Lindsiepe. Eine Kamera könne für Frauen, die in Gewaltsituationen gefilmt wurden, sehr belastend sein und Retraumatisierungen hervorrufen.

Soziale Netzwerke brachen plötzlich weg

Ob für Frauen mit körperlichen Behinderungen, psychischen, kognitiven oder Lernbeeinträchtigungen – ein großes Problem in Coronazeiten war auch das plötzliche Wegbrechen ihrer sozialen Netzwerke. Lindsiepe führt aus: „Viele Frauen haben generell kaum private Kontakte, ihr soziales Umfeld besteht überwiegend aus professionellen Kräften. Sie standen dann zeitweise ziemlich allein da und haben sich an uns als offene Beratungsstelle gewandt.“ Selbst in betreuten Einrichtungen seien Frauen zeitweise isoliert in ihren Zimmern gewesen und hätten die Mahlzeiten vor die Tür gestellt bekommen. Und wenn mobile Pflegedienste ihre Arbeit unvermittelt einstellen mussten, bedeutete dies auch dramatische Einschnitte für Frauen in den eigenen vier Wänden: Was tun ohne die lebensnotwendige Betreuung, wann bekomme ich das nächste Mal Unterstützung? Kommt meine gewohnte Pflegerin wieder, die meine Bedürfnisse kennt und der ich vertraue? Oder muss ich mich jeden Tag auf eine neue Fachkraft einstellen?

Individuelle Lösungen in unsicheren Zeiten

Zu all diesen Unsicherheiten gesellten sich außerdem diffuse Ängste, etwa vor einer Erkrankung an Covid 19. Ich kann mich nicht auf meinen Körper verlassen – diesen Satz hörte Lindsiepe in den Beratungsgesprächen des Öfteren. Der Anspruch der Nürnberger Beraterinnen ist es, gewaltbetroffenen Frauen ihre Handlungsfähigkeit zurückzugeben. „Dazu braucht man Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl“, resümiert die Beraterin. „Insbesondere, wenn es um strukturelle Gewalt in Einrichtungen geht, von der viele Frauen mit Behinderung betroffen sind.“ Neben der Beratung und Begleitung gewaltbetroffener Frauen und Mädchen bietet die „frauenBeratung nürnberg“ auch Präventionskurse und Fortbildungen an. Im neuen Schulungsprojekt „Aufeinander achten“ sollen Nachbarschaften im Nürnberger Stadtteil Gostenhof für das Thema häusliche Gewalt sensibilisiert werden. Lindsiepe: „Gerade in Pandemiezeiten ist das wichtig, das Projekt hätten wir gerne auf ganz Nürnberg ausgeweitet!“

www.frauenberatung-nuernberg.de

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