Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

15.11.2018

Interdisziplinäre Gewaltschutzteams stärken Kliniken – S.I.G.N.A.L. e. V. schult medizinische Einrichtungen im Umgang mit gewaltbetroffenen Patientinnen

Seit Anfang 2018 erprobt das DRK-Klinikum Westend in Berlin das Konzept.

Es ist fünf Uhr morgens, als Anja B. in der Ambulanz eintrifft. Ihr Gesicht ist fleckig und verschwollen, am Hals hat sie violette Druckmale. Auf dem rechten Ohr hört sie schlecht. Sie sei im Bad ausgerutscht und auf das Gesicht gefallen. Ihre Verletzungen sprechen eine andere Sprache. Doch wer ist dafür zuständig, nachzufragen? Anja B. wird in der Rettungsstelle untersucht, ihre Verletzungen versorgt. Es ist sieben Uhr dreißig, als sie das Krankenhaus verlässt und wieder nachhause geht. Frühstück machen. Als wäre nichts passiert.

Kliniken sind oft erste Anlaufstellen – aber selten vorbereitet

Häusliche und sexualisierte Gewalt hinterlässt Spuren. Über 64 Prozent der gewaltbetroffenen Frauen tragen körperliche Verletzungen davon, das zeigt eine repräsentative Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2004 (Müller/Schröttle). Für viele Betroffene ist ein Krankenhaus oder eine andere medizinische Einrichtung die erste Anlaufstelle nach der Gewalterfahrung. Wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort mögliche Ursachen der Verletzung erkennen, können sie Unterstützung anbieten und der Frau helfen, einen Weg aus der Gewalt zu finden. Doch vielerorts ist ein geschulter Umgang mit Fällen geschlechtsbezogener Gewalt im hektischen Klinikalltag nicht gewährleistet. "Wir wissen, dass ein nicht unerheblicher Teil aller Klinik-Patientinnen Gewalt erfahren hat oder aktuell erfährt", berichtet Karin Wieners vom gemeinnützigen Verein S.I.G.N.A.L. "Aber wenn die Aufmerksamkeit für das Thema Gewalt nicht fest in den Strukturen einer Klinik verankert ist, droht es immer wegzukippen." In der Konsequenz werden Gewaltfälle übersehen, übergangen oder unsensibel behandelt. Das soll sich ändern, fordert die Berliner Koordinierungs- und Interventionsstelle von S.I.G.N.A.L e. V.: Bei dem Verdacht auf häusliche und sexualisierte Gewalt müssen Kliniken und andere medizinische Einrichtungen handeln. Und zwar richtig.

Personal schulen, damit dieses schützen kann

Wie kann dies gelingen? Karin Wieners und ihre Kolleginnen setzen auf sogenannte "Gewaltschutzteams" in Kliniken – ein Konzept, das in Österreich bereits erfolgreich umgesetzt wird.
Ein Gewaltschutzteam ist eine interdisziplinäre Einrichtung, die klinikweit agiert. Diese Gruppe von geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt Maßnahmen, die einen kompetenten Umgang mit gewaltbetroffenen Patientinnen und ihren Kindern ermöglichen – damit diese bestmöglich versorgt und unterstützt werden. Was bedeutet das konkret? "Der Standard soll sein, dass in Verdachtsfällen nach Gewalterfahrungen gefragt wird und dass jede Abteilung einer Klinik in der Lage ist, eine gerichtsfeste Dokumentation zu erstellen", zählt Karin Wieners auf. "Außerdem müssen die Kliniken klären können, ob die Betroffene und gegebenenfalls ihre Kinder in Sicherheit sind. Und sie müssen in der Lage sein, die Betroffene an Schutz- oder Beratungseinrichtungen weiterzuvermitteln." Jeder Mitarbeitende einer Klinik soll zukünftig für das Thema sensibilisiert und in der Lage sein, entsprechend zu handeln, so das Ziel der Projektverantwortlichen. Seit Anfang 2018 unterstützt die Berliner Interventions- und Koordinierungsstelle Kliniken,
die sich für die Einrichtung eines Gewaltschutzteams entscheiden.

Das Konzept geht in den Praxistest

Der erste Partner für das Projekt ist das DRK Klinikum Westend in Berlin. Im Januar begann die Zusammenarbeit der Koordinierungsstelle des S.I.G.N.A.L e. V. – zunächst im kleinen Kreis, dann abteilungsübergreifend. "Uns hat das Konzept der Gewaltschutzteams als klinikinterne Expertengruppe überzeugt", berichtet Oberärztin Dr. Juliane Gonzaga Silveira. Die Internistin in der Zentralen Notaufnahme leitet das Projekt innerhalb des Westend-Krankenhauses. "Wir haben bereits eine sehr etablierte Kinderschutzambulanz am Standort und können so von den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen für unsere Arbeit profitieren. Zudem ist dadurch eine sehr gute Verzahnung zwischen der Betreuung erwachsener Patientinnen und deren mitbetroffener Kinder möglich", so die Oberärztin. Gonzaga Silveira und ihr Team reichten ihren Projektantrag bei der Geschäftsführung ein. Die sagte ihre Unterstützung zu – und stellte auch Ressourcen dafür frei. "Das ist herausragend", freut sich Gonzaga Silveira. "Denn in den meisten Häusern wird das Thema Gewaltschutz nebenbei betreut von engagierten Kräften der Rettungsstellen.

Nach einer zweitägigen Schulung durch S.I.G.N.A.L. e. V. begann das interdisziplinäre Team, bestehend aus Kräften von Zentraler Notaufnahme, Gynäkologie, Sozialdienst, Psychosomatik sowie Chirurgie, seine Arbeit aufzunehmen. In diesem Prozess werden die Abläufe zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen geregelt, Kooperationen ins externe Hilfesystem aufgebaut sowie konkrete Handlungsanweisungen entwickelt. Nach und nach werden dann alle involvierten Abteilungen geschult, "damit das Projekt in den Echtbetrieb übergeht", so Gonzaga Silveira.

Den Notfall hinter den Verletzungen erkennen

Aber wie sollen die Klinikmitarbeiterinnen und -mitarbeiter konkret reagieren, wenn eine Frau mit Merkmalen häuslicher oder sexualisierter Gewalt in die Rettungsstelle kommt? Wie hätte Anja B. geholfen werden können? „Zunächst gilt es zu erkennen, dass eine solche Patientin, auch wenn sie in der Notaufnahme vielleicht somatisch nicht die Kränkste ist, dringend einer Intervention bedarf – einer psychosozialen Intervention!“, erklärt Oberärztin Gonzaga Silveira. „Man darf die Betroffene nicht auf ihre körperlichen Befunde reduzieren.“ Für das Gespräch mit der Patientin empfiehlt sie, einen ruhigen Raum aufzusuchen und in diesem geschützten Rahmen sensibel das Thema Gewalt anzusprechen. Zudem sollte immer nach mit im Haushalt lebenden Kindern gefragt werden. Schließlich müsse eine gründliche Untersuchung und Dokumentation aller alten und neuen Verletzungen erfolgen, möglichst mit Fotos und Skizzen. Dazu gibt es einen speziellen Dokumentationsbogen, damit die Befunde auch rechtssicher, das heißt: gerichtsverwertbar seien. „Danach kommt etwas sehr Wichtiges“, betont die Ärztin: „die Prüfung des aktuellen Schutzbedürfnisses der Patientin sowie ihrer Kinder und die Weitervermittlung ins externe Unterstützungsnetzwerk.“ Ob Beratung, eine Aufnahme im Frauenhaus oder eine Schutzaufnahme in der Klinik – wichtig ist, dass die Betroffene und gegebenenfalls ihre Kinder sich nicht selbst überlassen bleiben.

"Ohne das Hilfetelefon geht es nicht!"

Eine umfassende Nachbetreuung kann in der Rettungsstelle jedoch nicht gewährleistet werden. "Hier kommen Angebote wie das Hilfetelefon 'Gewalt gegen Frauen' ins Spiel", berichtet Karin Wieners von S.I.G.N.A.L. Denn Betroffene benötigen in der Regel zeitnah einen möglichst niedrigschwelligen Kontakt zu einer Beratungseinrichtung. "Ohne das Hilfetelefon geht es nicht!", so Wieners. "Wir ermutigen Ärztinnen, Ärzte, Pflegekräfte und Hebammen, die 08000 116 016 weiterzugeben. So bleibt die Frau in jedem Falle nicht allein, sie wird aufgefangen und stabilisiert und kann zeitnah an eine passende Einrichtung weitervermittelt werden."

Wird der Gewaltschutz in Kliniken bald bundesweiter Standard sein, damit Frauen wie Anja B. dort Wege aus der Gewalt finden können? "Vorerst agieren wir nur in Berlin", seufzt Karin Wieners. "Im Moment hat meines Wissens niemand in Deutschland die Ressourcen, dies für alle Kliniken anzubieten."

Seit 16 Jahren engagiert sich der Verein S.I.G.N.A.L. für eine sensible und kompetente Beachtung von Gewalterfahrungen in der gesundheitlichen Versorgung. Seit diesem Jahr setzt die Koordinierungsstelle des Vereins das Modellprojekt „Gewaltschutzteam – Umgang mit häuslicher und sexualisierter Gewalt in Kliniken“ gemeinsam mit dem DRK Klinikum Berlin-Westend um. Kooperationen mit weiteren Berliner Kliniken werden aktuell aufgebaut. Karin Wieners hat das Projekt mitentwickelt und verantwortet es gemeinsam mit ihrer Kollegin Dorothea Sautter. Krankenhäuser, die ein Gewaltschutzteam etablieren möchten, können sich an S.I.G.N.A.L. e. V. wenden.

Erfahren Sie mehr über das Modellprojekt: www.signal-intervention.de/Eigene-Veroeffentlichungen

Zum Seitenanfang springen