Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

20.7.2018

Interkulturelle Kompetenz als Haltung – Sprachlich sensibel und respektvoll beraten beim Hilfetelefon

Täglich melden sich Frauen verschiedenster kultureller Hintergründe beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen". Beraten wird rund um die Uhr, mit Dolmetschung in 17 Fremdsprachen, im Chat, per E-Mail und am Telefon. Die Beraterinnen müssen sich binnen Sekunden auf ein Gegenüber einstellen, das sie nicht sehen können und dessen Hintergrund sie nicht kennen – Anonymität und Vertraulichkeit werden schließlich großgeschrieben. Ist dafür eine umfangreiche Kenntnis sämtlicher Kulturen erforderlich? Oder, anders gefragt: Worin liegt der Schlüssel für die sogenannte "interkulturelle Kompetenz" der Beraterinnen beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"? Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Lisa Rosen gibt einen Einblick in die Schulungspraxis beim Hilfetelefon. Beraterin Mareike Petzold* und Fachbereichsleiterin Christine Weyh berichten aus der Beratungspraxis.

"Wir müssen Machtverhältnisse verstehen!"

Prof. Dr. Lisa Rosen schult die Beraterinnen des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" seit 2013 darin, Frauen mit verschiedensten Hintergründen sensibel und bedarfsgerecht zu unterstützen. Den Begriff der "interkulturellen Beratung" vermeidet sie. "Dieser Fokus auf ‚kulturelle Unterschiede‘ trübt den Blick für wichtige Gemeinsamkeiten und Strukturen", so Rosen. Denn viel wichtiger sei es, Machtasymmetrien zu verstehen und seine eigene Rolle zu reflektieren. Darum trägt ihre Schulung den Titel "Psychosoziale Beratung in der Migrationsgesellschaft".

Im Rahmen des eintägigen Trainings geht es der Erziehungswissenschaftlerin folglich nicht darum, einzelne kulturelle Besonderheiten vorzustellen. "Ich möchte, dass die Beraterinnen ein Bewusstsein dafür entwickeln, welche gesellschaftliche Position sie selbst haben und welche Privilegien sich daraus ergeben." Privilegien – damit meint die Kölner Erziehungswissenschaftlerin zum Beispiel die Möglichkeit, ohne amtliche Genehmigung von Köln nach Düsseldorf zu fahren. Oder sich am Blinddarm operieren zu lassen, wenn nötig. Privilegien, die viele Menschen in Deutschland nicht haben – so zum Beispiel eine geflüchtete Frau mit offenem Asylstatus, die sich wegen einer Gewalterfahrung an das Hilfetelefon wendet. "Die Beraterinnen müssen sich klarmachen, dass die konkrete Kommunikationssituation dadurch geprägt wird, dass sie selbst der Mehrheitsgesellschaft angehören, während die Person am Telefon einer Minderheit angehört", erklärt Prof. Dr. Lisa Rosen.

Ist interkulturelles Wissen damit überflüssig? "In gewisser Weise schon", so Rosen. "Als Beraterin muss ich nicht wissen, wie Gespräche oder Konflikte angeblich in der anderen Kultur geführt werden. Es reicht allein das Wissen, dass dies unterschiedlich sein kann!"
 

"Wir respektieren die Frau – ihre Werte, Ansichten und Entscheidungen."

Wie wird dieses Wissen in der Praxis umgesetzt? Mareike Petzold* Soziologin mit langjähriger Erfahrung in der Sozialen Arbeit und Beraterin beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" berichtet über Schlüsselfaktoren und Herausforderungen bei der psychosozialen Beratung von Menschen mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen.

"Als Beraterinnen müssen wir immer im Hinterkopf behalten, dass sich Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten befinden", so die Beraterin. Vor diesem Hintergrund gelte es, sich immer wieder neu in Anrufende hineinzuversetzen, genau zuzuhören und herauszufinden, wie der Ratsuchenden am besten geholfen werden könne. "Wir arbeiten gemeinsam mit der betroffenen Frau immer an individuellen Lösungen und bieten Hilfe zur Selbsthilfe", so Petzold. In der Fachwelt spricht man in diesem Zusammenhang von Empowerment. Das Wichtigste im Gespräch sei aber immer der Respekt. "Wir nehmen die Frau an, so wie sie ist – egal wie sie ihr Leben lebt, wo sie herkommt, welche Entscheidungen sie trifft." Dieser Respekt spiegelt sich auch darin wider, dass die Beraterinnen sprachlich sensibel beraten. "Wir vermeiden beispielsweise den Fachterminus 'Genitalverstümmelung', denn er ist wertend und verurteilt die Lebenswirklichkeit vieler Frauen. Stattdessen sprechen wir in der Beratung von 'Beschneidung'", erklärt Mareike Petzold. Zugleich sei es aber auch wichtig, Wissen darüber zu vermitteln, dass es Gewalt und Diskriminierung gebe – und dass die Ratsuchende davon gegebenenfalls betroffen sei. Ein Spagat im Beratungsalltag.
 

"Interkulturelle Kompetenz ist beim Hilfetelefon 'Gewalt gegen Frauen' eine Haltung!"

Christine Weyh ist Fachbereichsleiterin beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen". Als solche ist sie Ansprechpartnerin und Koordinatorin für eine Gruppe von Beraterinnen und zugleich Expertin für den Themenbereich der interkulturellen Beratung. "Wir sprechen beim Hilfetelefon 'Gewalt gegen Frauen', eher von einer interkulturellen Haltung", betont sie. Ein Grundsatz dieser Haltung sei es, dass sich die Beraterinnen mit ihrem eigenen 'Fremdsein' auseinandersetzten. "Für manchen mag der erzkatholische Nachbar befremdlich sein, für einen Katholiken ist das vertraut. Entscheidend ist, dass ich dafür ein Bewusstsein entwickle." Für die Beraterinnen bedeutet dies, dass sie sich permanent selbst reflektieren müssen. Gefördert wird dies unter anderem in der sogenannten "„kollegialen Beratung", in der die Beraterinnen anhand ausgewählter Fälle ihre Erfahrungen und ihren Umgang mit den Ratsuchenden auswerten. "Diese Kompetenz der Selbstreflexion wird immer gebraucht – nicht nur im Kontakt mit Menschen, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben", betont Christine Weyh.

* Name von der Redaktion geändert

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