Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

16. Mai 2018

Jung, weiblich, Rollstuhlfahrerin sucht... barrierefreie Hilfe bei Gewalt

Einblicke in das Modellprojekt "Mädchen sicher inklusiv"

Wenn ein Mädchen oder eine Frau in Deutschland Gewalt erfährt, hat sie ein Recht auf Hilfe und Beratung. Doch diese Hilfe ist nicht immer einfach zu erreichen – insbesondere nicht für Frauen, die im Rollstuhl sitzen, gehörlos oder blind sind oder eine so genannte geistige Behinderung haben. Hier setzt das Modellprojekt "Mädchen sicher inklusiv" an: Mit seinem Angebot speziell für gewaltbetroffene junge Frauen und Mädchen mit Behinderung will es bestehende Lücken in der Beratungsversorgung aufzeigen und schließen. Wir haben mit der Leiterin des Projektes gesprochen.

Hilfe mit Hürden

In Deutschland gibt es über 160 Beratungsstellen, an die sich Frauen und Mädchen bei Gewalt wenden können. Trotz entsprechender Bemühungen sind längst nicht alle auf die Bedarfe von Klientinnen mit Behinderung eingerichtet. Maya Goltermann, Diplom-Pädagogin und Fachkraft für Inklusion, hat sich ein umfassendes Bild von der Lage gemacht. "Eine Gewaltschutz-Einrichtung für junge Frauen mit Behinderung zu finden, ist selbst für professionelle Fachkräfte oft eine große Herausforderung", berichtet sie.
 
Die 48-Jährige sitzt am Schreibtisch in den hellen Räumen von "Mädchen sicher inklusiv", einer Beratungseinrichtung für junge Frauen und Mädchen in der Bielefelder Altstadt. Von hier aus leitet sie seit 2015 das "Modellprojekt zur Gewaltprävention und Gewaltschutz für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung". Mit einem barrierefreien Beratungsangebot, Workshops sowie einem Informationsportal will das Team die Unterstützungslücke für behinderte Mädchen und junge Frauen in Nordrhein-Westfalen schließen. "Unser Ziel ist es sicherzustellen, dass jede Frau und jedes Mädchen mit Gewalterfahrung unabhängig von der Behinderungsform eine geeignete Anlaufstelle findet", so Goltermann.

Lücken im Unterstützungssystem schließen

Welche Möglichkeiten bieten die bestehenden Beratungsstellen in NRW für junge gewaltbetroffene Frauen, die beispielsweise seh- oder hörbehindert sind, im Rollstuhl sitzen, chronisch erkrankt sind oder Lernschwierigkeiten haben? Bei ihren umfassenden Recherchen stießen Goltermann und ihr Team auf Erfolgsgeschichten – aber auch auf Lücken im Unterstützungssystem. Die Ergebnisse sammelten sie auf der Webseite www.mädchensicherinklusiv-nrw.de. Sortiert nach Stadt sind dort die verschiedenen Anlaufstellen bei Gewalt aufgelistet und hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit kommentiert. Auch auf das Beratungsangebot des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" weist das Portal hin.
 
Parallel zu diesem Informationsangebot begann das Team um Maya Goltermann Anfang 2016, auch selbst psychosoziale Beratungen anzubieten. Online, telefonisch und persönlich helfen die vier Pädagoginnen jungen Frauen und Mädchen mit Behinderung bei allen Fragen rund um das Thema Gewalt und vermitteln an barrierefreie Facheinrichtungen. Übergriffe im Rahmen der Pflege, Mobbing, sexualisierte Gewalt, Grenzüberschreitungen, drohende Verheiratung, körperliche Gewalt – das Spektrum der angefragten Themen ist breit. Alle Mitarbeiterinnen von "Mädchen sicher inklusiv" sind Expertinnen für psychosoziale Beratungsarbeit. Jedoch deckt jede von ihnen ergänzend eigene Schwerpunkte ab, etwa Leichte Sprache, Empowerment, Inklusion oder die Vernetzung mit anderen Facheinrichtungen, auch in den Sozialen Medien. Diese Vielfalt ist Maya Goltermann wichtig, das spürt man im Gespräch mit ihr. Nur so kann ihr Team einer heterogenen Zielgruppe mit völlig verschiedenen Bedarfen gerecht werden.
 
Bei der Beratung selbst gebe es weniger Herausforderungen als zunächst angenommen, so Goltermann. "Junge Frauen mit Behinderung benötigen Hilfe und Unterstützung – darin unterscheiden sie sich nicht von Frauen oder Mädchen ohne Behinderung." Zentral gehe es immer wieder darum zu vermitteln, dass behinderte Frauen und Mädchen ernst zu nehmen seien, dass sie Rechte haben und diese einfordern dürfen.
 

Innere und äußere Barrieren überwinden

Tatsächlich ist der Mangel an barrierefreien Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen für gewaltbetroffene Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung aber nur die eine Seite der Medaille. Studien zeigen, dass sich diese Zielgruppe nur verhältnismäßig selten an Hilfsangebote wendet – das ist die andere Seite. "Frauen mit Behinderung erleben zwei bis dreimal häufiger körperliche, psychische und sexuelle Gewalt als Frauen ohne Behinderung", weiß Lysann Häusler, Fachbereichsleiterin beim Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen". Entsprechend müsste die Nachfrage nach Beratung in diesem Bereich eigentlich viel höher sein. Das dem nicht so ist, hat laut Lysann Häusler insbesondere strukturelle Gründe. "Viele Frauen mit Behinderung wissen nicht, dass sie bei Grenzüberschreitungen und Gewalt überhaupt einen Anspruch auf Unterstützung haben – geschweige denn, dass sie wissen, wie sie eine Beratungsstelle erreichen können, oder dass diese Angebote kostenfrei sind", so die Fachbereichsleiterin. Um Menschen mit Behinderung den Zugang zu Hilfe zu erleichtern, setzt sie vor allem auf gesamtgesellschaftliche Inklusion und Prävention. "So lange sich Menschen mit Behinderung ein Stück weit ‚verstecken’ müssen, weil sie sich den Anforderungen der Gesellschaft nicht gewachsen fühlen, ist der Weg aus der Isolation schwer", so Häusler. "Darum müssen wir die Bedarfe von Menschen mit Behinderung konsequent mitdenken und Zugänge niedrigschwellig gestalten."
 
Dies ist auch für Maya Goltermann eine der zentralen Herausforderungen ihrer Arbeit. "Es ist viel schwieriger, Mädchen und junge Frauen mit Behinderung oder chronischer Erkrankung zu erreichen", berichtet sie. "Viele ziehen eine Hilfesuche schlicht nicht in Betracht, weil körperliche und seelische Grenzverletzungen für sie seit Jahren zum Alltag gehören."
 

Erst Begegnung, dann Beratung

Um gewaltbetroffenen Mädchen und jungen Frauen in NRW einen Zugang zu Beratung zu eröffnen, knüpft das Team von "Mädchen sicher inklusiv" proaktiv Kontakte an alltäglichen Orten ihrer Zielgruppe. "Wir gehen beispielsweise an Förderschulen und bieten dort Empowerment-Workshops an. Dort klären wir über Gewaltformen auf und stellen Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung vor." Erst dann, wenn ein persönlicher Kontakt bestehe, wagten viele Frauen den Schritt in eine Beratungsstelle. Hunderte junger Frauen und Mädchen konnten seit 2015 erreicht und beraten werden. Hätten sie auch den Weg in eine "normale" Beratungsstelle gefunden? Statt zu spekulieren, verweist Maya Goltermann auf Feedback ihrer Klientinnen. "DANKE!", schreibt eine von ihnen. "Danke für ein mich angesprochen und mich gemeint fühlen und dafür, mich hier willkommen zu fühlen – mit allem, was ist oder nicht ist."
 
Bis Dezember 2018 wird "Mädchen sicher inklusiv" durch das Land Nordrhein-Westfalen gefördert. Wie es danach weitergeht, ist noch offen.

Weitere Informationen

Maya Goltermann, Diplom-Pädagogin und Fachkraft für Inklusion, leitet seit 2015 das "Modellprojekt zur Gewaltprävention und Gewaltschutz für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung". Erfahren Sie hier mehr über "Mädchen sicher inklusiv" – ein Projekt des Mädchenhaus Bielefeld e.V.: www.mädchensicherinklusiv-nrw.de

Im April 2018 wurde die bundesweit erste barrierefreie Zufluchtsstätte für Mädchen und junge Frauen, die sich in einer akuten Notlage befinden, in Bielefeld eröffnet: www.maedchenhaus-bielefeld.de/news/die-bundesweit-erste-zufluchtstaette-ist-barrierefrei.html

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