Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

15.05.2019

"Von Frauen wird Keuschheit und Gehorsam erwartet" – Myria Böhmecke im Gespräch über Gewalt im Namen der Ehre

Myria Böhmecke ist Referentin bei Terre des Femmes. Im Interview spricht sie über Gründe und Hintergründe von "Gewalt im Namen der Ehre" und erklärt, warum es für viele Frauen so schwer ist, Anzeige zu erstatten. Terre des Femmes setzt sich dafür ein, dass Frauen ohne Angst vor "Ehrgewalt" leben können – auch in Deutschland.

"Gewalt im Namen der Ehre" ist ein Begriff, der uns immer wieder in den Medien begegnet – wessen Ehre steht da eigentlich auf dem Spiel?

In vielen patriarchalischen Strukturen lässt sich das Ehrverständnis darauf herunterbrechen, dass die Frauen keusch, gehorsam und moralisch untadelig sein sollen. Die Männer müssen dies als gute Hüter der Familie sicherstellen. Verhalten sich einzelne Mitglieder der Familie oder des Clans nicht im Sinne dieses Ideals, ist die Ehre der Familie in Gefahr – und zwar die der gesamten Familie!

 

Kann diese Ehre durch Gewalt – zum durch Beispiel die Ermordung des ungehorsamen Familienmitglieds – gesichert oder wiederhergestellt werden?

Ein so genannter "Ehrenmord" ist ja nur die letzte Stufe. Gewalt fängt schon viel früher an: Mit Einschränkung, Isolation und Kontrolle der Frauen. Mit psychischer Gewalt. Mit verschiedensten Formen physischer Gewalt. Auch Zwangsverheiratung ist eine Form von Gewalt im Namen der "Ehre". Anders als ein "Ehrenmord" werden viele dieser Formen von Außenstehenden nur selten bemerkt oder gar zur Anzeige gebracht.

 

Gibt es dazu Zahlen?

Leider keine aktuellen. Das Problem dabei ist auch, dass nur ein ganz geringer Teil der Gewaltfälle vor Gericht landet, obwohl es durchaus immer wieder zu Anzeigen zum Beispiel durch Nachbarn oder Lehrkräfte kommt.

 

Warum werden die Täter nicht verurteilt? Liegt es an unseren Gesetzen?

Nein, die Gesetzeslage ist grundsätzlich in Ordnung. Aber für die betroffenen Mädchen und Frauen ist es schwer, gegen ihre eigene Familie auszusagen. Stellen Sie sich das am Beispiel einer geplanten Zwangsheirat vor: Ein Mädchen soll einen älteren Verwandten heiraten. Das möchte es nicht, aber die Verlobung wurde bereits bekannt gemacht. Versucht das Mädchen sich gegen die Eheschließung zu weigern, stellt es damit die Autorität der Familie infrage: Das allein bedeutet in vielen Clans eine Verletzung der Familienehre. Viele Mädchen fürchten die Konsequenzen einer solchen Ehrverletzung; oft werden sie sogar von vorneherein konkret bedroht. Andere Mädchen wollen schlicht ihren Familien eine solche "Schande" nicht antun und fügen sich darum ihrem Schicksal. Und nicht zuletzt wollen die Mädchen ihre Familie und ihre Freundinnen eigentlich gar nicht verlassen, hoffen immer noch darauf, dass sich etwas ändert an der Gewaltsituation.
Entsprechend sagen nur die wenigsten Frauen, die von Gewalt im Namen der "Ehre" bedroht oder betroffen sind, bei der Polizei aus.

 

Welche Hilfe brauchen diese Frauen dann?

Vor allem eine vertrauensvolle Person, die sie begleitet! Häufig können betroffene Frauen und Mädchen nur geschützt werden, indem sie die Familie verlassen, sämtlichen Kontakt abbrechen und untertauchen – das ist ein sehr schwerer Schritt! Den schaffen die meisten Frauen nur, wenn sie nicht völlig auf sich selbst gestellt sind.

 

Sie denken an Beratungseinrichtungen?

Ja, das auch. Es gibt immer mehr spezialisierte Einrichtungen, die von Ehrgewalt betroffene Frauen auf ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Leben über eine längere Zeit hinweg begleiten. Ganz wichtig ist dabei der Schutz der Frauen, denn sie werden wegen ihrer "Ehrverstöße" oft bundesweit und über Jahre von den Familien gesucht.
Neben dieser langfristigen Unterstützung ist aber auch wichtig, dass es in konkreten Notsituationen kompetente Ansprechpartnerinnen gibt. Da ist das rund-um-die Uhr Angebot des Hilfetelefons "Gewalt gegen Frauen" eine wichtige Anlaufstelle – weil es auch dann erreichbar ist, wenn andere Beratungsstellen geschlossen haben.

 

Beratungsangebote sind unersetzlich. Was kann noch getan werden, um Gewalt im Namen der "Ehre" Einhalt zu gebieten?

Es ist wichtig, dass das Thema und seine Relevanz in der Gesellschaft bekannt sind. Darum machen wir bei Terre des Femmes Öffentlichkeitsarbeit und vernetzen uns gut mit anderen Akteuren in diesem Bereich. Wir machen politische Lobbyarbeit, bieten Schulungen an und setzen auch auf Prävention – die nicht früh genug anfangen kann.

 

Und… verändert sich etwas?

Studien und auch die Praxis legen nahe, dass die Fallzahlen zum Thema "Gewalt im Namen der Ehre" steigen. Das ist eine der Herausforderungen, denen wir uns hier stellen müssen. Ob es daran liegt, dass es tatsächlich mehr Fälle sind oder dass die Frauen inzwischen einfach wissen, an wen sie sich wenden können, kann nicht abschließend eruiert werden, da aktuelle Studien fehlen. Auf jeden Fall aber hat sich die Wahrnehmung des Themas gewandelt. Als wir im Jahr 2002 begannen, im Bereich Zwangsverheiratung mit bundesweiten Kampagnen aufzuklären, galt allgemein: "Das sind nur ganz wenige Einzelfälle". Heute würde das niemand mehr sagen. Dank unserer Arbeit sind die Hilfsangebote deutlich besser aufgestellt als damals. Sie sehen: Es ändert sich etwas – aber es dauert sehr lange.

Myria Böhmecke ist Referentin bei der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes. Die Religionswissenschaftlerin und Pädagogin ist dort unter anderem zuständig für die Themen Gewalt im Namen der "Ehre" und Zwangsheirat. Der gemeinnützige Verein unterstützt Frauen und Mädchen durch internationale Vernetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Lobbyarbeit auf politischer Ebene, gezielte Aktionen, persönliche Beratung und der Förderung einzelner Projekte im Ausland.

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