Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

30.5.2017

"Opferschutz ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen" – In seinem Gastbeitrag gibt Stalking-Experte Wolf Ortiz-Müller Einblick in seine Arbeit

Wolf Ortiz-Müller ist Experte für das Thema Stalking. Er leitet die Berliner Beratungsstelle Stop-Stalking und hat täglich mit Betroffenen und Nachstellenden zu tun. Anfang April organisierte er in Berlin die Stalking-Konferenz 2017, auf der sich Expertinnen und Experten aus Psychologie, Sozialarbeit, Justiz und Wissenschaft austauschten. In seinem Gastbeitrag gibt der ausgebildete psychologische Psychotherapeut einen Einblick in seine Arbeit und die aktuellen Entwicklungen in seinem Fachgebiet: 

Gastbeitrag

Im Jahr 2014 befragte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Frauen in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten nach ihren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt und erstmals auch zu ihren Stalking-Erfahrungen. Fünf Prozent aller Frauen gaben an, allein in den letzten zwölf Monaten nachstellendes, grenzüberschreitendes Verhalten erlebt zu haben – eine erschreckend hohe Zahl. Bezogen auf rund 35 Millionen Frauen in Deutschland ab 15 Jahren wären das mehr als eineinhalb Millionen Frauen pro Jahr. Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet hierzulande jährlich circa 20.000 Strafanzeigen wegen Stalking, 80 Prozent davon werden von Frauen aufgegeben. Die Täter und Täterinnen kommen aus allen Gesellschaftsschichten, Bildungsgraden und Kulturen.

Der Bedarf nach professioneller Unterstützung ist hoch

An unsere Beratungsstelle Stop-Stalking können sich Frauen ganz niedrigschwellig wenden, auch wenn sie unsicher sind, ob es sich bei dem Erlebten bereits um Stalking handelt. Denn der Begriff „Stalking“ wird im Alltag nicht trennscharf verwendet, insbesondere mit Blick auf beendete Beziehungen. Hierbei ist häufig schwer einzuschätzen, ob es sich um einen eskalierten Trennungskonflikt unter wechselseitiger Kontaktaufnahme beider (Ex-)Partner bzw. Ex-Partnerinnen oder bereits – nach erfolgter eindeutiger Abgrenzung – um beharrliches Stalking handelt.
 
In einem Gespräch klären wir, mit welchem grenzüberschreitenden Verhalten wir es zu tun haben, welche Art von Beziehung es vorher gab und welche Motivation hinter dem Verhalten steckt, zum Beispiel Werben, Zurückgewinnen-Wollen oder vielleicht sogar Rache. Aus den Beschreibungen entwickeln wir gemeinsam ein Bild und ein Risikoprofil des Stalkers beziehungsweise der Stalkerin. Wir klären die inneren Ambivalenzen der Ratsuchenden, prüfen, ob es vielleicht noch Schuldgefühle oder trotz eigener Abgrenzung auch eine emotionale Verbundenheit gibt, die es der stalkenden Person leicht macht, wieder anzudocken. Darauf aufbauend entwickeln wir Schutzmaßnahmen, die der Zudringlichkeit angemessen sind, und beraten, ob eine Strafanzeige oder das Erwirken eines Annäherungsverbots nach dem Gewaltschutzgesetz sinnvoll erscheint. In hoch eskalierten Fällen, wenn gewaltsame Übergriffe drohen, muss ein auf die individuellen Umstände zugeschnittenes Bedrohungsmanagement mit unseren Netzwerkpartnern einsetzen. In jedem Fall ist es wichtig, die einzelnen Stalkinghandlungen zu dokumentieren, egal ob es sich um SMS, Nachrichten auf dem Anrufbeantworter oder ein Auflauern im Nahbereich handelt.

Der Hilflosigkeit begegnen

Oft ist es jedoch nicht möglich, das Stalking binnen kurzer Zeit zu unterbinden. Dann geht es in der Opferberatung häufig darum, wie dennoch eine gute Lebensqualität und ein Gefühl der Selbstbestimmung für die Betroffene aufrechterhalten oder zurückerlangt werden können. Es geht um die Fragen: Wie kann ich Hilflosigkeitserfahrungen begegnen? Wie kann ich aus der Opferperspektive heraustreten? Wie kann ich mir „stalkingfreie Räume“ schaffen, anstatt gedanklich und emotional nur um den Stalker oder die Stalkerin zu kreisen? Wenn ein solches Empowerment gelingt, ist ein wichtiger Schritt raus aus der Ohnmachtserfahrung getan.
 
Das Hilfetelefon kann durch seine Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit wie ein zweites Netz wirken, wenn keine Vorort-Beratung möglich ist. Weil es Betroffene in unvorhergesehenen Krisensituationen begleiten kann.

Die Digitalisierung birgt neue Gefahren

Neben der potentiellen Gewalt im öffentlichen Raum durch stalkende Ex-Partner und Ex-Partnerinnen ist im Zuge der Digitalisierung ein weiterer Schauplatz für zudringliches Verhalten entstanden. Smartphone, Internet und soziale Medien gehören heute zum täglichen Leben und oftmals auch zum Beruf dazu. Mithin hat sich eine neue Form der Verletzbarkeit entwickelt, die für ältere Generationen, aber auch noch zu Beginn der 2000er Jahre, unvorstellbar war.
 
Cyberstalking oder auch Cybermobbing sind neue Phänomene, die darauf basieren, dass sich Menschen die schier unendlichen Möglichkeiten des Internets zu Nutze machen. Aufgrund der Vielfalt der Erscheinungsformen gibt es bis heute keine allgemeingültige Definition. Eine Recherche im Internet über frei zugängliche Daten und Informationen einer Person kann nicht als Cyberstalking gelten. Genauso wenig zielführend wäre es, allen alltäglichen elektronischen Kommunikationsformen die Vorsilbe „Cyber-“ voranzustellen. Unerwünschte Nachrichten im Posteingang des Rechners oder Smartphones vorzufinden, ist für sich genommen noch kein Cyberstalking. Andernfalls wären alle bei uns ratsuchenden Frauen „Cyberstalkingopfer“ und der Begriff verlöre seine Trennschärfe.  

Cyberstalking: von Fake-Accounts über Passwortdiebstahl bis hin zum Installieren von Trojanern

Wir sprechen erst dann von Cyberstalking, wenn es sich darüber hinaus um internetbasierte kriminelle Angriffe handelt, die darin bestehen können, Fake-Accounts anzulegen und Identitätsdiebstahl zu betreiben, um scheinbar als die gestalkte Person aufzutreten. Auf vielfältige Weise kann diese dann diskriminiert werden, es können Warenbestellungen aufgegeben oder falsche Profile (zum Beispiel mit sexuellen Inhalten) angelegt werden. Auch die massenhafte Verbreitung von Unwahrheiten, falschen Anschuldigungen oder die Manipulation und Vernichtung von Daten sind gravierende Erscheinungsformen des Cyberstalking und strafbare Handlungen. Selbstverständlich sind auch das Hacken von Passwörtern und der unerlaubte Zugriff auf persönliche Kommunikation und Computerinhalte darunter zu fassen, ebenso wie das Installieren von Viren, Trojanern und von Spy-Software auf dem Notebook oder Smartphone, die es erlauben, jegliche Kommunikation zu überwachen, wie auch jeden Aufenthaltsort der Zielperson nachzuverfolgen.
 
Je weniger sich Menschen der Gefahren bewusst sind, die aus einem unbefangenen Umgang mit den persönlichen Daten in der Medienwelt resultieren können, desto angreifbarer sind sie. Sie fühlen sich umso stärker ausgeliefert, je weniger sie in der Lage sind, sich zu schützen. Umgekehrt gilt: Über je mehr technisch-elektronische Fertigkeiten ein Mensch verfügt, desto geringer kann die Hemmschwelle sein, dieses Wissen beim Stalken einzusetzen und in die Privatsphäre eines anderen Menschen einzudringen. Generell betrachtet erlebe ich es in der Beratungspraxis weitaus häufiger, dass sich Frauen solchen Attacken ausgesetzt sehen, als dass sie diese Form von Stalking selbst ausüben.

Die Novellierung des Stalking-Paragraphen muss sich in der Realität bewähren

Mit dem Gewaltschutzgesetz von 2002, dem ersten Nachstellungsgesetz von 2007 und dessen Novellierung im Jahr 2017 wurden Meilensteine für betroffene Frauen gesetzt. Nichtsdestotrotz erleben sie häufig sehr lange Bearbeitungszeiten bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Wenn dies in einer Einstellung des Verfahrens mündet, ist der Frust bei den betroffenen Frauen oft groß, auch weil sich die stalkende Person dadurch in ihrem Handeln bestätigt fühlt. Hier setzt die Gesetzesnovellierung vom März 2017 ein. Bislang mussten die Opfer durch ihr Verhalten nachweisen, dass sie massiv geschädigt wurden. Jetzt steht das Stalkingverhalten der Täter und Täterinnen im Fokus. Beurteilt wird, ob ihr Stalking dazu geeignet ist, die Lebensgestaltung der Opfer schwerwiegend zu beeinträchtigen, auch wenn die Betroffenen selbst vielleicht noch nicht klein beigegeben haben. Ob diese richtige Intention des Gesetzgebers auch in der Praxis zu einem besseren Opferschutz beiträgt, wird erst die Rechtsprechung der kommenden Monate und Jahre zeigen.
 
Wünschenswert wäre, wenn sich sowohl Politik als auch Justiz klar machten, dass Opferschutz ein gesamtgesellschaftliches Anliegen darstellt und nur zu gewährleisten ist, wenn Strafverfolgung und Hilfsangebote aus der Zivilgesellschaft in weitaus höherem Maß als bisher miteinander verzahnt werden. Wir benötigen ein pro-aktives Vorgehen in der Opferhilfe wie auch in der Täterintervention.

Die Beratungsstelle Stop-Stalking wurde im April 2008 gegründet. Ein Team aus Psychologischen Psychotherapeuten und -therapeutinnen und Fachkräften aus der Sozialarbeit kümmert sich seitdem um Stalking-Betroffene, aber auch deren Nachstellerinnen und Nachsteller. Mehr Informationen zur Beratungsstelle finden Sie unter:  www.stop-stalking-berlin.de

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