Anne Roth ist Diplom-Politologin, Netzaktivistin und Expertin für Datensicherheit. Sie arbeitet für die Linksfraktion im Bundestag und wirft in ihren Blog-Beiträgen einen feministischen Blick auf Themen wie Überwachung, Verschlüsselung und Privatsphäre im Internet.
Überraschend fand ich, dass sich da offenbar viele sich selbst als progressiv verstehende Männer verabredet haben, um Frauen zu demütigen. Als eine Art Hobby. Man weiß zwar, dass das überall vorkommt. Wie bei häuslicher Gewalt, die ja auch in allen Schichten und Bereichen der Gesellschaft vorkommt. Aber in dieser Massivität, das macht einen schon fassungslos.
Ich weiß aus meinem Umfeld, dass viele Frauen mit Hate speech, Cyber-Harassment und anderen Formen von Cyber-Gewalt konfrontiert sind. Aber trotz seiner Brisanz ist das Thema zu wenig erforscht. Laut einer Umfrage von Amnesty International aus dem Jahr 2017 waren 23 Prozent der befragten Frauen schon einmal einer Form von Cyber-Gewalt ausgesetzt. Doch eine Umfrage ersetzt keine wissenschaftliche Studie. Daran mangelt es leider. Und die Bundesregierung sieht offenbar keinen Anlass, daran etwas zu ändern.
Durch alles, was von irgendwem als provokant empfunden wird. Es sind häufig Äußerungen, die sich gegen Diskriminierung richten, zum Beispiel gegen Sexismus, Rassismus und Homophobie, die zu aggressiven Reaktionen und Drohungen führen. Wenn das immer wieder vorkommt, kann das eine große psychische Belastung werden.
Ich möchte nicht über mich persönlich sprechen. Aber mir sind viele Fälle bekannt, in denen Frauen aggressiv verfolgt wurden. Es beginnt mit einzelnen Hasskommentaren und steigert sich zu massiven Drohungen mit Vergewaltigung und Mord. Besonders bedrohlich wird es, wenn Doxing ins Spiel kommt, also das Sammeln von Informationen über eine Person. Dann heißt es: 'Wir wissen wo Du wohnst, wo Du arbeitest und wo Dein Kind in die Kita geht'. Der Übergang von digitaler zu analoger Bedrohung ist fließend. Ein Täter, der bedrohliche Mails schickt, kann als nächstes Drohbriefe in den Briefkasten werfen oder zu körperlichen Angriffen übergehen.
Wer an brisanten öffentlichen Debatten teilnehmen will, sollte über ein Identitätsmanagement nachdenken. Für solche Diskussionen sollte die Person sich eine digitale Figur ausdenken, mit der sie im Internet unterwegs ist. Wenn dann mal etwas schief läuft, ist es möglich, aus dieser Haut auch wieder herauszuschlüpfen. Wenn man einen anderen Namen verwendet, fällt es möglichen Tätern nicht so leicht, herauszufinden, wo man arbeitet und oder wo man wohnt.
Es geht darum, Menschen, die andere Meinungen vertreten, zum Schweigen zu bringen. Manchmal geht das von Einzelnen aus. Doch oft wird deutlich: Hier wurde in einer Gruppe ein entsprechender Aufruf gepostet: ‚Der zeigen wir es jetzt mal richtig!’ Dann erhält die betroffene Person plötzlich hunderte Hasskommentare als Reaktion auf einen einzigen Tweet. Der Account kann gar nicht mehr genutzt werden und man stellt ihn für ein paar Tage auf 'protected' um. Dann ist der oder die Betreffende – zumindest vorübergehend – wirklich mundtot gemacht worden.
Nicht wirklich. Zwar haben viele Bundesländer mittlerweile spezielle Staatsanwaltschaften und Sonderdezernate für Internet-Kriminalität, aber die beschäftigen sich mit Kreditkartenbetrug und anderen Finanzdelikten. Wenn man dort nachfragt, ob auch Formen sexistischer Bedrohung verfolgt werden, verweisen die auf die Abteilung für Sexualstrafrecht. Und die sind in Sachen digitaler Gewalt nicht immer auf dem neuesten Stand. Hier müsste es unbedingt mehr Weiterbildung geben. Das gleiche gilt übrigens auch für Beratungsstellen.
Doch, denn Beratungsstellen und auch das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" sind mit dem Thema häufig konfrontiert. Aber von meiner früheren Tätigkeit als Internet-Sicherheitsberaterin weiß ich, wie aufwendig es ist, sich immer auf dem Laufenden zu halten. Mit jeder technologischen Entwicklung verändert sich das Täterverhalten und man muss sich permanent informieren, etwa über bestimmte Formen der Forensik. Wie finde ich zum Beispiel heraus, ob auf einem Handy eine Spy-App installiert wurde? Wir brauchen für Frauenberatungsstellen eine bessere finanzielle Ausstattung, da sie sonst nicht hinterherkommen, sich bei diesem Thema kompetent zu halten.
Soweit ich das persönlich und über den Bekanntenkreis mitbekomme, sind die Schulen auf das Thema digitale Gewalt überhaupt nicht vorbereitet. Es gibt sicher auch an einigen Schulen gute Medienbildung, aber das sind löbliche Ausnahmen. Kinder lernen zwar, wie man eine PowerPoint-Präsentation erstellt, aber eine Diskussion über Mediennutzung findet meines Wissens kaum statt. Ein Beispiel: Sobald die Kinder alt genug sind, Fotos zu posten, müssen sie lernen, dass es ein Recht am eigenen Bild gibt und dass man nicht einfach Fotos von anderen ungefragt ins Internet stellt.
Bevor wir Gesetze verschärfen oder neue verabschieden, brauchen wir als ersten Schritt mehr Forschung zu dem Thema. Es gibt dazu zu wenige Studien und Statistiken. Es wird weder erfasst, wie viele Frauen jährlich im Internet, über soziale Medien oder durch Spy-Apps von Gewalt betroffen sind, noch wie viele Täter dafür vor Gericht gestellt wurden. Das müssen wir ändern. Außerdem sollte es mehr bezahlbare Möglichkeiten geben, sich über das Thema zu informieren. Ich würde mir eine "Volkshochschule für Digitalzeug" wünschen: Ein niedrigschwelliges Bildungsangebot, das Menschen aller Altersstufen die Chance gibt, sich Know-how über die wichtigsten digitalen Medien und Technologien anzueignen.
* "Ligue du LOL" ("LOL-Liga") war eine Gruppe französischer Medienmacher, die sich auf Facebook verabredet hatten, Frauen im Internet gezielt anzugreifen und fertig zu machen. "LOL" ist eine im Internet gebräuchliche Abkürzung für laughing out loud ("lautes Lachen"). Die Existenz der Mobbing-Truppe wurde im Februar dieses Jahres von der Zeitung "Libération" aufgedeckt.
Foto: ©Frederic Jacobs "Anne Roth at OHM" CC BY 2.0