Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

09.11.2017

"Strafverfahren sind überaus belastend für gewaltbetroffene Zeuginnen" – Neues Gesetz ermöglicht Frauen professionelle psychosoziale Begleitung im Gerichtssaal

"Was passiert, wenn ich ihn anzeige? Muss ich ihm vor Gericht gegenübertreten? Und alles im Detail erzählen?" – Viele Frauen, die Gewalt erleben, schrecken vor einer Anzeige zurück, weil sie die Strapazen eines Gerichtsprozesses fürchten. Ein neues Gesetz soll besonders schutzbedürftigen Betroffenen vor Gericht Unterstützung und Betreuung ermöglichen. Eine überaus wichtige Neuerung, sagt Katja Grieger, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff)  –  auch deshalb, weil dadurch ganz offiziell anerkannt werde, wie belastend Strafverfahren für Betroffene sein können. Im Interview erklärt die Diplom-Psychologin, welche Leistungen die Psychosoziale Prozessbegleitung umfasst und wer das Angebot in Anspruch nehmen kann.

Seit dem 1. Januar 2017 haben besonders schutzbedürftige Zeuginnen einen Anspruch auf professionelle Begleitung und Betreuung während eines Strafverfahrens: die psychosoziale Prozessbegleitung. Wie sieht diese Unterstützung konkret aus?

In der Psychosozialen Prozessbegleitung werden so genannte Opferzeuginnen und –zeugen im gesamten Strafverfahren von Begleiterinnen betreut, informiert und stabilisiert: ein wichtiges Angebot, um die Belastungen für Gewaltbetroffene zu reduzieren. Im Voraus klärt die Prozessbegleiterin mit der Zeugin verschiedenste Fragen rund um das Verfahren. Es wird beispielsweise über den Ablauf gesprochen, darüber, welche Beteiligten welche Rolle haben, in welcher Reihenfolge befragt wird und wer wo sitzt. Je besser Zeuginnen informiert sind, desto weniger Angst haben sie vor dem Verfahren; sie fühlen sich sicher und können es besser meistern.
 
Am Prozesstag selbst begleitet die Prozessbegleiterin die Zeugin zum Gericht und sorgt dafür, dass diese die Wartezeit bis zu ihrer Aussage sicher und möglichst angenehm verbringen kann. Und nach der Verhandlung wird besprochen, was vor Gericht abgelaufen ist und welche eventuellen weiteren Schritte und Möglichkeiten bestehen.
 

Der bff hat inzwischen bereits 45 Psychosoziale Prozessbegleiterinnen ausgebildet. Wie sind die Prozessbegleiterinnen für diese Aufgaben qualifiziert?

Prozessbegleiterinnen haben ein Studium der (Sozial-)Pädagogik oder ähnliches absolviert, sie haben Berufserfahrung und zusätzlich eine spezielle Weiterbildung für Psychosoziale Prozessbegleitung abgeschlossen. Die durch den bff ausgebildeten Begleiterinnen sind zudem immer an eine auf Gewalt spezialisierte Beratungsstelle angebunden.
 

Worin unterscheiden sich die Leistungen eines Rechtsbeistands von denen der Prozessbegleitung?

Grundsätzlich geht es bei der Psychosozialen Prozessbegleitung ausschließlich um die psychosoziale Situation der Zeuginnen. Das heißt, die Inhalte des Verfahrens und rechtliche Strategien werden nicht besprochen. Dafür ist im besten Fall eine Nebenklagevertretung zuständig.
 

Wer genau kann eine Psychosoziale Prozessbegleitung in Anspruch nehmen? Wer übernimmt die Kosten?

Wenn eine Psychosoziale Prozessbegleitung vom Gericht beigeordnet wird, übernimmt der Staat die Kosten. Leider gibt es sehr enge Regeln, in welchen Fällen dies erfolgen kann. Ein Recht auf Beiordnung haben beispielweise Minderjährige, die von bestimmten Delikten wie etwa Sexualstraftaten betroffen sind. Bei erwachsenen Betroffenen handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des Gerichtes, die erfolgen kann, wenn ein Antrag gestellt wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass auch in diesen Fällen ein Recht auf Prozessbegleitung besteht.
 

Wie finden Zeuginnen und Zeugen heraus, ob sie einen Anspruch auf eine Prozessbegleitung haben?

Betroffene im oder vor dem Strafverfahren sollten sich auf jeden Fall bei einer Beratungsstelle oder einer Rechtsanwältin erkundigen, ob in ihrem spezifischen Fall eine Beiordnung möglich ist, wie die Beantragung funktioniert und wie man eine Prozessbegleiterin findet. Viele Beratungsstellen unterstützen auch bei der Antragstellung.
 

Strafprozesse sind für Betroffene oft sehr belastend. Lange Prozesstage und die Angst, aussagen zu müssen, halten viele Betroffene davon ab, Anzeige zu erstatten. Was ist diesen Ängsten und Bedenken entgegenzusetzen?

Ich halte nichts davon, die Bedenken kleinreden zu wollen - leider sind sie häufig berechtigt. Mit der Frage "Anzeige, ja oder nein?" beschäftigen sich zahlreiche Betroffene lange und intensiv, und das ist auch sinnvoll. Beratungsstellen bieten bei der Entscheidungsfindung Hilfe. Wir raten weder zu noch ab, sondern besprechen mit jeder Frau ihr persönliches Für und Wider. Die Entscheidung liegt aber letztlich bei der Frau.
 

Was spricht denn dafür, trotz der Belastungen Anzeige zu erstatten?

Ein Strafverfahren kann für Betroffene eine Möglichkeit sein, sich mit den Mitteln des Rechts zur Wehr zu setzen. Viele Frauen, die sich für eine Anzeige entscheiden, tun das auch deshalb, weil sie möchten, dass das ihnen angetane Unrecht offiziell anerkannt wird oder weil sie den Täter daran hindern wollen, weitere Gewalt zu begehen. Wenn ein Verfahren gut verläuft – und damit muss nicht unbedingt eine hohe Strafe für den Täter gemeint sein – dann kann dies einen sehr positiven Beitrag zur Bewältigung der Gewalterfahrung leisten.

Katja Grieger ist die Geschäftsführerin des Bundesverbandes Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff). Im bff sind 180 Fachberatungsstellen zusammengeschlossen, die gewaltbetroffene und bedrohte Frauen und Mädchen unterstützen. Der bff bündelt deren Expertise und leistet Sensibilisierung und Informationsvermittlung zum Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

© Jörg Farys/Die Projektoren
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