Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

07.03.2019

Vergewaltigt. Verkauft. Und trotzdem durchgestartet.

Die Dortmunder Mitternachtsmission macht Betroffene von Menschenhandel stark

Es ist 5.30 Uhr morgens. Noch liegt die Ruhrmetropole Dortmund im Dunkeln, ganz vereinzelt rauschen Autos über den nassen Asphalt der Dudenstraße. Vor einem schmucklosen Gebäude südlich des City-Rings sitzt Hope1. Sie wartet. Darauf, dass die Mitternachtsmission öffnet. Denn Hope ist heute ihren Menschenhändlern entkommen. Und sie weiß: Jetzt braucht sie ganz dringend Hilfe.

"Mitternachtsmission" steht auf der unauffälligen Klingel. Weiter nichts. Von außen ist kaum zu erahnen, dass sich hinter der schweren weißen Tür eine stark frequentierte Beratungsstelle für Prostituierte, Ehemalige und Opfer von Menschenhandel verbirgt. Es ist die Einsatzzentrale der 16 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen, 30 Honorarkräfte und über 80 Ehrenamtliche, die nahezu rund um die Uhr und in 16 Sprachen beraten und helfen. Während die Arbeit mit noch aktiven Sexarbeiterinnen eher aufsuchend – also in Bordellen, Clubs, Wohnungen oder auf dem illegalen Dortmunder Straßenstrich stattfindet – erfolgt die Beratung zum Thema Menschenhandel meist in den Räumlichkeiten der Mitternachtsmission. "Menschenhandel in die Prostitution ist sexuelle Gewalt und ein schweres Verbrechen", sagt Sozialarbeiterin Andrea Hitzke, die die Mitternachtsmission seit 2012 leitet. "Betroffene Frauen brauchen schnelle und umfassende Hilfe". Allein 2018 waren es 469 Klientinnen von 1109 die sich aufgrund von Menschenhandel an die Mitternachtsmission wandten. Sie alle wurden zur Prostitution gezwungen.

Akute Hilfe

"Ein Großteil der Frauen, die aufgrund von Menschenhandel zu uns kommen, stammt aus Westafrika, insbesondere Nigeria, Guinea und Gambia", berichtet Andrea Hitzke. Unabhängig von der Herkunft der Frau müssen die Beraterinnen zunächst klären, ob die Frau in akuter Gefahr schwebt und möglicherweise in eine andere Stadt oder sogar ein anderes Bundesland gebracht werden sollte, um den Menschenhändlern zu entkommen. Auch die ärztliche Versorgung wird, wenn nötig, umgehend gewährleistet. Später stehen in den meisten Fällen Behördengänge an – vor allem, wenn die Frauen Asyl beantragen oder eine Anzeige gegen die Menschenhändler erstatten möchten.

Von Nigeria nach Dortmund – ein Weg durch die Hölle

Der unfreiwillige Weg in die Prostitution beginnt für viele Frauen mit der Flucht aus ihrem Heimatland. Sie werden mit falschen Versprechungen zur Reise nach Europa gelockt: Jobs als Kosmetikerin, eine eigene Wohnung, Geld für die Familie. Auf dem Landweg durch die Wüste Libyens geht es dann nach Europa. Zahllose Frauen werden dabei schon vor Überquerung des Mittelmeeres vergewaltigt und missbraucht. Für viele Frauen beginnen die Qualen der Zwangsprostitution jedoch in Europa, weiß Andrea Hitzke. Zunächst im Ankunftsland – bis vor kurzem war das vorwiegend Italien. Doch in der Erwartung besserer Verdienste werden viele Betroffene anschließend in andere Länder Europas geschickt, zum Beispiel nach Deutschland. Hier werden sie in Wohnungen gebracht und müssen sich prostituieren, um ihre angeblichen Schulden für die Überreise zu begleichen.

Angst und Isolation machen den Weg zu Hilfsangeboten extrem schwer

Der Weg aus der Zwangsprostitution ist hart. Viele der Frauen, die aus dem Ausland hergebracht wurden, haben kaum Deutschkenntnisse und, abgesehen von den Freiern, wenig Kontakt zur Außenwelt. Doch selbst wenn die Frauen nicht eingesperrt oder körperlicher Gewalt ausgesetzt sind, fällt der Ausstieg schwer. Das Vertrauen in Hilfsangebote und Polizei ist gering, die Angst vor den Menschenhändlern groß. "Gerade bei den Frauen aus Nigeria wissen wir, dass sie mithilfe eines Juju-Schwurs gefügig gemacht werden", berichtet Andrea Hitzke. Diese Frauen wagen es nicht, zu fliehen oder gegen die Schlepper auszusagen, weil sie mit gravierenden Folgen für sich und ihre Familien rechnen. Oft sei diese Angst auch berechtigt, so Hitzke. "Die Menschenhändler sind hervorragend vernetzt und schrecken nicht davor zurück, den Angehörigen im Heimatland etwas anzutun."

"Wir unterstützen die Frauen so lange, wie sie es brauchen"

Trotzdem schaffen es immer wieder Frauen, auszubrechen. Viele von ihnen „stranden“ bei der Mitternachtsmission. Ausgemergelt, krank oder verletzt, traumatisiert und von der Flucht völlig erschöpft. Manche sind schwanger oder haben kleine Kinder dabei. "Wenn die Frauen zu uns kommen, müssen sie oft zunächst ein paar Stunden schlafen und etwas essen, bevor sie weitere Hilfe in Anspruch nehmen können", berichtet die Leiterin der Mitternachtsmission. In der Beratungsstelle gibt es eigens dafür ein Schlafsofa. In der kleinen Teeküche stehen Fertiggerichte – eine Spende von Unterstützenden.

Sind die eingetroffenen Frauen stabilisiert, beginnt für sie eine zweite Odyssee: die in ein neues Leben. Denn nur wenige von Menschenhandel betroffene Frauen können in ihr Heimatland zurückkehren – zu groß ist die Gefahr, wieder in die Fänge der Menschenhändler zu geraten. "Wir unterstützen die Frauen so lange, wie sie es brauchen", betont Andrea Hitzke. Eine Anzeige erstatten, Asyl beantragen, Deutsch lernen, einen Kitaplatz oder eine Hebamme organisieren, eine Wohnung finden und einrichten, Bewerbungen schreiben, einen Therapieplatz finden: Bei all diesen Schritten bieten die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission Unterstützung.

"Jede Frau, die es schafft, motiviert mich"

Oft ist das aber gar nicht nötig. "Mich begeistert immer wieder, wie schnell und motiviert viele Frauen sich ein neues Leben aufbauen, ungeachtet aller Traumata und Verletzungen", berichtet die Sozialarbeiterin. "Es klingt vielleicht komisch, aber es macht sehr viel Spaß, mit den Frauen zu arbeiten. Wir erleben, was die Frauen – auch mit unserer Hilfe – erreichen können, wie sie sich verändern, wie sie ihren Weg gehen. Jeder Fall ist wie eine Vitaminspritze; jede Frau, die es schafft, motiviert mich, weiterzumachen."

Auch für Hope gibt es Hoffnung. Es dämmert über Dortmund. Bald werden sich die Türen in der Dudenstraße öffnen – und Hope wird Schritte in ihr neues Leben gehen. Als freie Frau – endlich.

1 Name von der Redaktion geändert

Foto: Dortmunder Mitternachtsmission e. V.
 

Informationen zur Dortmunder Mitternachtsmissionfinden Sie auf: www.mitternachtsmission.de

Zum Seitenanfang springen