Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

30.06.2021

Wie die prekäre Lage der Prostituierten in der Covid-19-Pandemie zu Gewalt und Ausbeutung führt

Mit dem ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 wurde Prostitution – mit Ausnahme weniger Wochen im Herbst – verboten: Bordelle und Clubs waren vollständig geschlossen. Was bedeutet das für die Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Sexarbeiterinnen verdienen? „Sie haben den geschützten Rahmen für ihre Arbeit verloren“, berichtet Andrea Hitzke, Leiterin der Dortmunder Mitternachtsmission e. V. „Das hat ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen, denn die Einrichtungen sind legal, bieten einen gewissen Schutz und die Prostituierten unterstützen sich dort gegenseitig.“

Lauter Einzelschicksale

Zu Beginn der Pandemie kehrten einige Frauen unmittelbar in ihre europäischen Heimatländer zurück, viele sind jedoch in Deutschland geblieben – zu diesen hat die Dortmunder Beratungsstelle noch Kontakt. Die Sozialarbeiterinnen berichten, dass nur sehr wenige Frauen überhaupt die ersten staatlichen Corona-Soforthilfen beantragt und erhalten haben. Bei der Neuauflage im Herbst kam diese Unterstützung selbst bei den wenigen nicht mehr an. Das Honorar für die Steuerkanzleien, über die seitdem die Gelder beantragt werden müssen, war für die Frauen schlichtweg nicht bezahlbar.

Weil es absolut keine Möglichkeit gab, Geld zu verdienen, griffen viele auf ihre letzten Ersparnisse zu und verkauften Wertgegenstände. Nicht wenige verloren aufgrund von Mietrückständen ihre Wohnung. Selbst die kurzfristige Öffnung der Bordelle im Spätsommer, die von einer Betreiberin vor Gericht erstritten wurde, brachte keinerlei Erleichterung: Wegen der strikten Hygienemaßnahmen nahmen zu wenige Kunden die Sexleistungen in Anspruch und der nächste vollständige Lockdown folgte bereits nach wenigen Wochen.

Internet, Straßenstrich und Gewalt

Durch die finanzielle Not waren Frauen gezwungen über das Internet Kunden anonymisiert anzuwerben bzw. sind auf dem Straßenstrich gelandet. Beides ist nicht nur illegal und höchst schwierig in Zeiten des Lockdowns, es verursacht auch besonderen Stress: Werden Sexarbeiterinnen etwa von Kontrolleuren der Ordnungsbehörden im Sperrbezirk erwischt, kann dies – nach Platzverweis, Belehrung und verhängten Bußgeldern – bis zur Haftstrafe führen. Möglichst unauffällig sein, war die Devise.

„Genau das ist der Punkt, an dem Gewalt, Ausbeutung und Menschenhandel steigen“, erklärt Hitzke. Frauen gerieten an Kunden, die ihre offensichtlichen Zwangslagen völlig ausnutzten. Nicht nur die Preise für sexuelle Dienstleitungen fielen, Frauen erlitten und erleiden noch schwerste Misshandlungen. Dazu kommt, dass vermeintliche „Unterstützer“ dubiose Anwerbeaktionen starteten.

Frauen werden ausgebeutet

Kein Geld, keine Perspektive, keine Zukunft. Dazu kommt die psychische Belastung, weil viele Frauen nicht mehr für ihre Kinder sorgen bzw. die Familie in ihrem Heimatland unterstützen konnten. Eine Dortmunderin in prekärer Lage wurde beispielsweise nach Schweden angeworben, wo weniger strenge Pandemie-Beschränkungen herrschten. Zusammen mit drei weiteren Kolleginnen bekam sie eine Arbeitswohnung gestellt, für die die Frauen 4.000 Euro Miete erwirtschaften mussten. Vom übrigen Erlös aus der Sexarbeit durften sie lediglich 25 Prozent behalten – ein Ausbeutungssystem durch Menschenhändler. Dennoch sagte sie zu und begab sich auf die Reise in den Norden.

Vor Ort Hilfe leisten

„Sexarbeiterinnen sind in unserer Gesellschaft stets die letzten, bei denen Hilfe und Unterstützung ankommt.“ Hitzke erklärt, wie die Sozialarbeiterinnen trotzdem versuchen, für sie da zu sein. Nur wenige Prostituierte – insbesondere vom Straßenstrich – melden sich von selbst bei den Beratungsstellen, weswegen die Dortmunder Mitternachtsmission auf die sogenannte aufsuchende Sozialarbeit setzt. Die Mitarbeiterinnen gehen aktiv auf die Frauen des Straßenstrichs zu und sprechen sie an. Für diese stellt es bereits eine Hilfe dar, wenn sich Menschen für ihre Sorgen und Nöte interessieren, sich um ein warmes Essen oder einen Schlafplatz für sie kümmern.

Darüber hinaus leisten die Fachkräfte Krisenintervention, motivieren drogenabhängige Prostituierte zur Entgiftung oder zum Arztbesuch; denn oft sind die Frauen in sehr schlechtem Gesundheitszustand. Die Sozialarbeiterinnen organisieren und begleiten sie zu Terminen bei speziellen Gesundheitsteams, von denen sie ärztlich betreut werden, auch wenn sie nicht krankenversichert sind.

Insbesondere während des zweiten Lockdowns meldeten sich Sexarbeiterinnen, die zunächst noch versucht hatten, die Covid-19-Pandemie mithilfe ihrer Ersparnisse durchzuhalten – ohne Perspektive auf eine Verbesserung ihrer Situation. Nicht nur die finanzielle Lage war schwierig, auch psychische Folgen wie Depressionen, Ängste und Hoffnungslosigkeit waren die Folge. So versuchten die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission durch Beihilfen und Anträge für Coronahilfen bei Stiftungen, die Not der Frauen zu lindern.

Welche Unterstützung ist noch möglich und vor allem notwendig?

„Die bundesweiten Unterstützungsstrukturen müssen dringend ausgeweitet werden“, so Hitzke. „Dafür brauchen wir insgesamt mehr Geld, mehr spezialisierte Beratungsstellen und mehr Einrichtungen, die Frauen in Not aufnehmen.“ Bestehende Frauenhäuser etwa lehnen Opfer von Menschenhandel aus Angst vor organisierter Kriminalität häufig ab. Generell müssten Prostituierte besser vor Gewalt und Menschenhandel, vor Diskriminierung und Stigmatisierung geschützt werden. Sie brauchen eine sozialrechtliche Absicherung, damit sie – wie im Fall der Covid-19-Pandemie – in Notlagen auf finanzielle Unterstützung zählen können.

Positiv in der Pandemie erwiesen sich etwa das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ und die steigende Digitalisierung. Da viele Sexarbeiterinnen aus Bulgarien, Rumänien und Polen kommen, hatten sie die Möglichkeit, beim Hilfetelefon eine Beratung in ihrer Muttersprache wahrzunehmen. Und die Mitternachtsmission baute eine eigene Online-Beratungsplattform auf, durch die sie mehr Minderjährige in der Prostitution erreichen konnten.

Zur Mitternachtsmission: www.mitternachtsmission.de

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