Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

15.03.2021

Wie Fachkräfte im Gesundheitswesen bei häuslicher und sexualisierter Gewalt intervenieren können

Ein Interview mit Dorothea Sautter und Céline Simon von der S.I.G.N.A.L.-Koordinierungsstelle

In Kliniken, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, im Öffentlichen Gesundheitsdienst oder in anderen gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen haben Fachkräfte häufig Kontakt zu Menschen mit Gewalterfahrungen. Sie können Betroffene frühzeitig erreichen und in einem vertraulichen Rahmen ansprechen. Hilfreich ist es, wenn sie entsprechend geschult sind und über Unterstützungsangebote Bescheid wissen. Dies ist das Ziel des gemeinnützigen Vereins S.I.G.N.A.L. e. V., dessen Projekte von der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung finanziert werden. Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ sprach mit der Psychologin und Hebamme Dorothea Sautter und der Philosophin Céline Simon; beide sind Referentinnen in der seit zehn Jahren tätigen Koordinierungs- und Interventionsstelle von S.I.G.N.A.L. in Berlin.

Das Berufsfeld, in dem Gesundheitsfachkräfte arbeiten, ist riesig. An welche Gruppen richtet sich Ihr Angebot insbesondere?

Sautter: Wir engagieren uns für die Einführung verbindlicher Interventionsstandards im Gesundheitsbereich, vor allem in Kliniken. Dazu gehört die Zusammenarbeit mit Gesundheitseinrichtungen, die Qualifizierung von medizinischen Fachpersonen sowie die Öffentlichkeits- und Netzwerkarbeit. Unsere Angebote richten sich an Ärztinnen und Ärzte in Kliniken und niedergelassenen Praxen, an Pflegefachpersonen und Hebammen sowie an medizinische und zahnmedizinische Angestellte. Grundlagen für unsere Arbeit bieten unter anderem die thematischen Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, die sogenannte Istanbul-Konvention, aber auch weitere Handlungsempfehlungen.

Welche Veränderungen im Gewaltgeschehen durch die Covid-19-Pandemie nehmen Sie als S.I.G.N.A.L. e. V. insgesamt wahr?

Sautter: Häusliche und sexualisierte Gewalt gibt es immer, auch ohne Pandemie. Die Corona-Pandemie ist also nicht die Ursache, scheint aber das Risiko für häusliche Gewalt zu erhöhen. Wir sehen, dass der Bedarf an Sensibilisierung und Intervention generell – aber gerade auch in dieser Zeit – wächst. Betroffene wissen oft nicht, wohin sie sich im Fall der Fälle wenden können. Deshalb sind Gesundheitseinrichtungen wichtige Anlaufstellen, die auch Informationen zum spezifischen Hilfenetz weitergeben können.

Kommt Fachkräften im Gesundheitswesen deswegen eine besondere Rolle zu?

Simon: Ja, gerade weil die allgemeine Gesundheitsversorgung immer gewährleistet sein muss und nicht wie andere Bereiche heruntergefahren werden kann. In einer europäischen Studie haben Betroffene angegeben, sich nach dem schlimmsten Gewaltereignis an erster Stelle an Gesundheitseinrichtungen gewendet zu haben. Das bedeutet, dass Gesundheitsfachpersonen oft die ersten und nicht selten die einzigen sind, die die Folgen der Gewalt sehen.

Auch weil andere Kontakte im Alltag wegbrechen?

Simon: Der persönliche Austausch in Schulen oder Kitas, mit Familienmitgliedern, der Nachbarschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis oder mit Kolleginnen und Kollegen ist ja eingeschränkt. In Teilen sogar die Gesundheitsversorgung selbst, wenn Arztpraxen teils Video-Sprechstunden anbieten oder Besuchsverbote in Einrichtungen bestehen, weil Pandemie-Bestimmungen eingehalten werden müssen.

Sautter: Wir haben in den letzten Monaten Informationsschreiben an Gesundheitseinrichtungen verschickt. Mit der Information weisen wir darauf hin, dass Gesundheitsfachpersonen diejenigen sind, die Gewalt im Kontakt mit Betroffenen erkennen und ansprechen können und damit eine besondere Verantwortung tragen. Auch Informationen zum Hilfesystem sind im Anschreiben genannt, etwa Angebote wie das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“.

Kommen wir zu Ihren Qualifizierungsangeboten. Müssen Sie viel Überzeugungsarbeit leisten oder besteht im Gesundheitswesen eine gewisse Offenheit gegenüber der Gewaltthematik?

Simon: Das Interesse an Fortbildungen ist sehr groß und auch in der Pandemie ist die Nachfrage hoch. Allein in Kooperation mit der Ärztekammer veranstalten wir drei Basisfortbildungen im Jahr. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus unterschiedlichsten Fachbereichen, es ist eine bunte berufliche Mischung. Darüber hinaus bieten wir in der Pflege- und Hebammenausbildung sowie für medizinische und zahnmedizinische Auszubildende einen Seminartag zum Thema Intervention bei häuslicher Gewalt an; dafür haben wir einen Pool an Trainerinnen. Wir merken, dass es in unseren Schulungen den Menschen vor allem darum geht, wie man bei Verdacht handeln soll, und nicht mehr „ob“ und „warum“.

Welche Reaktionen und Rückmeldungen erhalten Sie zu Ihren Schulungen und Qualifizierungsangeboten?

Simon: Das Feedback ist sehr positiv und die Menschen sind dankbar, Informationen über das Thema zu bekommen. Auch unser Informationsmaterial und der Erklärfilm „Signale wahrnehmen – statt wegschauen“ kommen gut an. Viele berichten, dass sie vor der Schulung Hemmnisse gehabt hätten, Betroffene bei einem Verdacht auf Gewalt anzusprechen, aber sich dies nach der Schulung nun zutrauen.

Wie schaffen Sie es, genau diese Ängste abzubauen?

Simon: Wir starten mit grundlegenden Informationen, nutzen Fallbeispiele, sprechen über die Situation von Betroffenen und deren Ambivalenz sowie die Rolle und Bedeutung der Gesundheitsversorgung – und führen praktische Übungen durch. Mit den S.I.G.N.A.L.-Handlungsschritten zeigen wir ganz konkret, wie Intervention umgesetzt werden kann. Es erhöht die Sicherheit, zu wissen, wie und was gesagt und welche Unterstützung angeboten werden kann.

Sautter: Ganz wichtig dabei ist, dass die Fachpersonen wissen, dass von ihnen keinesfalls erwartet wird, die Beratung allein durchzuführen. Dazu gibt es die spezialisierten Beratungsstellen. Es geht darum, Frauen zu „empowern“ und zu unterstützen, selbst kleine Schritte zu unternehmen. Eine Pflegeperson kann einer Betroffenen zum Beispiel sagen: „Es gibt die Beratungsstelle XY, dort können Sie sich informieren.“ Aber dazu muss sie natürlich die regionalen und bundesweiten Unterstützungsangebote kennen.

Wie würden Sie in kurzen Worten Ihre konkreten Ziele formulieren?

Sautter: Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass das Wissen um die Gewaltthematik und die Bedeutung der Gesundheitsversorgung bei allen Fachpersonen vorhanden ist. Deshalb entwickeln wir unsere Fortbildungsangebote stetig weiter und haben im vergangenen Jahr viel Mühe in Online-Schulungen gesteckt und neue Materialien erstellt. Im Augenblick arbeiten wir an einem neuen Schulungsfilm. Generell streben wir eine flächendeckende Verankerung von Intervention im Gesundheitswesen an, dabei arbeiten wir vor allem mit Kliniken zusammen. Unser Ziel ist eine adäquate und verbindliche Versorgung für Betroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt im Gesundheitsbereich.


* Das Akronym steht für: S = Sprechen Sie Gewalt aktiv an, I = Interview mit konkreten einfachen Fragen, G = Gründliche Untersuchung alter und neuer Verletzungen, N = Notieren und dokumentieren aller Befunde und Angaben, A = Abklären des aktuellen Schutzbedürfnisses, auch der Kinder, L = Leitfaden mit Anlaufstellen für Beratung und Unterstützung. www.signal-intervention.de

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