16.07.2015
Dr. med. Christian Albring ist Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. Seit dem Start des Hilfetelefons im März 2013 macht er sich für die Bekanntmachung des Angebotes stark – sei es in einem offenen Brief an die Bundesregierung, sei es durch Information aller rund 17.000 im Verband organisierten Frauenärztinnen und -ärzte. Auf der Webseite, in der Fachzeitschrift des Verbandes sowie auf Kongressen und Messen weist er immer wieder auf das Hilfetelefon hin, an das sich auch Gesundheitsfachkräfte mit Fragen wenden können. Im Interview spricht er über die Herausforderung, vor der Ärztinnen und Ärzte beim Thema Gewalt gegen Frauen stehen.
Zunächst ist es in einem Verdachtsfall enorm wichtig, die Sachlage durch behutsame Fragestellungen so weit wie möglich zu konkretisieren und zu klären, was der Patientin widerfahren ist, ohne sie bloßzustellen. Bestätigt sich der Verdacht, sollte die Ärztin oder der Arzt die Patientin im Gespräch auf ihre Möglichkeiten aufmerksam machen. Wenn die Patientin einverstanden ist, sollten die Verletzungen auch dokumentiert werden, selbst dann, wenn sie keine Anzeige erstatten will. Ein großes Problem ist es allerdings, dass wir als behandelnde Ärzte nach wie vor laut SGB V verpflichtet sind, der Kasse die Verursacher solcher Verletzungen zu melden. Die Versicherung wird dann versuchen, sich die Behandlungskosten vom Verursacher zurückzuholen. Das kann für die einzelne Frau zu einer bedrohlichen Situation führen und steht meiner Meinung nach auch im Konflikt zum informationellen Selbstbestimmungsrecht der Frau.
Auch wenn alle Frauenärztinnen und -ärzte eine verpflichtende psychosomatische Qualifikation durchlaufen, sprengt der Beratungsbedarf oftmals die durch das vertragsärztliche System vorgegebenen Rahmenbedingungen. Hier ist das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" für uns Frauenärzte eine große Unterstützung. Zum einen können wir den Betroffenen einen Kontakt vermitteln, an den sie sich jederzeit wenden können – selbst wenn es vor Ort keine Frauenberatungsstelle gibt. Zum anderen können Ärztinnen und Ärzte auch selbst die Beratung nutzen und sich informieren, was in der jeweiligen Situation der richtige nächste Schritt sein könnte.
Das können einerseits rechtliche Schritte sein. Nicht für alle Patientinnen ist jedoch eine Anzeige bei der Polizei eine Option. Um Druck von der Patientin zu nehmen, sollte die Gynäkologin oder der Gynäkologe auf jeden Fall eine anonyme Spurensicherung anbieten, wenn körperliche oder sexuelle Gewalt ausgeübt wurde. Auf diese Weise lassen sich wichtige Beweise sichern, die, falls es später zu einer Gerichtsverhandlung kommen sollte, entscheidend für den Verlauf sein können.
Manche Frauen, die von Gewalt betroffen sind, befürchten, mit einer Anzeige ihre Leidenssituation noch zu verstärken. Deshalb kann zunächst eine psychosoziale Beratung hilfreich sein. Als Ärzte verweisen wir in der Regel auf Frauennotrufe oder Interventionsstellen in der Nähe. Vor allem ist es wichtig, niedrigschwellig zu arbeiten. Sich Hilfe zu holen, sollte nicht wie eine unlösbare Aufgabe erscheinen.
Die Patientin verbindet mit ihrer Gynäkologin oder ihrem Gynäkologen im besten Fall ein jahrelang gewachsenes Vertrauensverhältnis. Aber eine langfristige psychosoziale Betreuung, auch mit der Option, sich aus der bedrohlichen Situation zu lösen, das ist für uns Frauenärztinnen und -ärzte im Rahmen unserer Tätigkeit in der Praxis nicht zu leisten. Wenn wir wissen, welche Beratungs- und Betreuungsangebote wir den betroffenen Frauen empfehlen können, dann erleichtert uns dieses Wissen das Gespräch.
Auch wenn eine Patientin zum Beispiel aus Scham oder Schuldgefühlen zu Fragen schweigt, ist eine Vermittlung an eine anonyme und sichere Beratungsstelle ein hoffentlich hilfreicher und unbedingt logischer Schritt.
Ich denke, dass ein Gespräch mit einer Beratungsstelle wie dem Hilfetelefon dazu beitragen kann, dass eine Frau die eigene Situation klarer sieht und die Möglichkeiten ausloten kann, die sich ihr bieten – unabhängig von der Art der Gewalt, die einer Frau widerfahren ist und unabhängig von der spezifischen Lage, in der sie sich befindet. Die Patientin entscheidet ja selbst darüber, ob sie das Angebot nutzen möchte und wie viel sie von ihrer Situation erzählt. Dass man beim Hilfetelefon rund um die Uhr jemanden erreicht und Dolmetscherinnen für 15 Sprachen zur Verfügung stehen, macht für Einige sicherlich die Kontaktaufnahme leichter.
Ich halte es auf jeden Fall für sinnvoll, wenn in der Praxis Infomaterial aufgehängt oder ausgelegt wird. Auf diesem Weg können sich Patientinnen bereits während der Wartezeiten über die Beratungsmöglichkeiten informieren. Gerade im Fall von häuslicher Gewalt gehören die Frauenarztpraxen ja oftmals zu den wenigen Orten, zu denen Frauen noch alleine hingehen können. Die Ärztin oder der Arzt kann den Patientinnen, die von Gewalt betroffen sind, dann auch im persönlichen Gespräch Infomaterialien aushändigen, falls weiterer Beratungsbedarf besteht.
In Deutschland klafft bei der Prävention von Gewalt und in der Betreuung von gewaltbetroffenen Mädchen und Frauen immer noch eine riesige Lücke zwischen politischem Anspruch und der Wirklichkeit. Wenn eine Frauenärztin oder ein Frauenarzt Gewalt gegen Frauen in der eigenen Praxis zum Thema macht, positioniert man sich damit als verantwortungsbewusste Ansprechpartnerin oder -partner, die oder der Gewalterfahrungen ernst nimmt. Das ist, aus meiner Sicht, ein sehr wichtiges Engagement.