Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

28.09.2023

Bestehende Hilfsangebote noch nicht divers genug

Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin von DaMigra e. V., im Gespräch mit dem Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen"

Eine Frau mit Behinderung, ein wohnungsloses Mädchen, eine Transfrau, eine geflüchtete Frau – Hilfsangebote sollten die spezifischen Herausforderungen für gewaltbetroffene Frauen noch stärker berücksichtigen, so Dr. Delal Atmaca, Geschäftsführerin von DaMigra e. V. im Interview mit dem Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen".

Frau Dr. Atmaca, welche besonderen Herausforderungen gibt es im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte?

Dr. Delal Atmaca: Alle Frauen, die von Gewalt betroffen sind, kennen vermutlich das Gefühl der Ohnmacht. Das gilt auch für Frauen, die ihre Heimat verlassen und auf der Flucht sind: Sie waren unter Umständen bereits in ihrer Heimat repressiven Regimen oder Kriegsparteien ausgesetzt. Fluchtrouten sind unsicher, es drohen Gewalt und sexualisierte Übergriffe durch Schlepper oder auch durch Sicherheitskräfte in Geflüchtetenlagern. Auch in den Unterkünften im Aufnahmeland fühlen sie sich oft nicht sicher. Dort kann es der Nachbar sein, der übergriffig wird. Wir müssen in den Blick nehmen, wer nicht nur Sexismus ausgesetzt ist, sondern auch weiteren Formen von Diskriminierung. Es sind insbesondere die Verzahnungen von Mehrfachdiskriminierungen, die uns bei allen Formen patriarchaler Gewalt zusätzlich bewusst(er) werden müssen. Eine Frau mit Behinderung, ein wohnungsloses Mädchen, eine Transfrau, eine geflüchtete Frau – sie alle machen aufgrund ihrer Mehrfachidentitäten eigene Erfahrungen und sind mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert.

Welche Rahmenbedingungen erschweren die Situation dieser Frauen?

Dr. Delal Atmaca: Sprachbarrieren, keine Rückzugsmöglichkeiten in Geflüchtetenunterkünften, Angst vor Abschiebung – um nur einige zu nennen. Es mangelt an Dolmetscherinnen und Dolmetschern, an psychologischer und medizinischer Unterstützung. Viele Frauen haben in ihren Heimatländern und auf der Flucht massiv traumatisierende Ereignisse erleben müssen. Stellen Sie sich die Situation einer Obdachlosen vor. Glauben Sie, eine geflüchtete Frau ohne Papiere ruft die Polizei, wenn sie Gewalt ausgesetzt ist? 

Vor fünf Jahren haben Sie in einem Interview mit dem Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" über die Situation von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte gesprochen. Hat sich seitdem aus Ihrer Sicht etwas geändert?

Dr. Delal Atmaca: Viel zu wenig, bedauerlicherweise! Viele Hilfsangebote sind auch heute noch kaum divers ausgerichtet. Sie müssten Frauen aller Altersgruppen ansprechen, Frauen mit unterschiedlicher Bildung, sie müssten nicht nur in vielen Sprachen erfolgen, sondern auch unterschiedliche kulturelle Codes anwenden. Es ist eine komplexe, diffizile Angelegenheit, die vor allem große Sensibilität verlangt. Nehmen wir das Beispiel einer Frau mit Migrationshintergrund in einem deutschen Pflegeheim, die sexualisierte Gewalt erlebt, vielleicht durch einen Mitbewohner oder auch durch einen Pfleger. Sie wird sich mutmaßlich schwertun, das anzusprechen. Hilfreich wäre, wenn die Beschäftigten in diesem Pflegeheim einen Sinn für solche Situationen entwickeln würden. Aber wie soll das gelingen, bei der meist dünnen Personalsituation?

DaMigra e. V. tritt auch an, um die Interessen von Frauen mit Migrations- und Fluchtgeschichte in der Bundespolitik hör- und sichtbar zu machen. Sie sind schon eine Weile dabei – treffen Sie heute eher auf offene Ohren als früher?

Dr. Delal Atmaca: Leider nein. Im Koalitionsvertrag steht etwas zum Stichwort modernes Einwanderungsland – aber Papier ist geduldig und ich registriere eher, dass bei Hilfs- und Unterstützungsprojekten finanzielle Mittel gekürzt werden. Allein das Beispiel Istanbul-Konvention zeigt, in welchem Schneckentempo sich etwas ändert. Dass Deutschland seine Vorbehalte gegen bestimme Artikel, wie zum Beispiel Artikel 59, Abs. 2 & 3 der Europaratskonvention zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Häuslicher Gewalt aufgegeben hat, ist gut. Artikel 59 der Istanbul-Konvention ist der Artikel, der gewaltbetroffenen Frauen einen eigenständigen Aufenthaltstitel unabhängig vom Ehemann gewährt. Die bestehenden Vorbehalte und die mangelhafte Umsetzung der Istanbul-Konvention haben in den vergangenen Jahren also Migrantinnen und geflüchtete Frauen effektiv vom Gewaltschutz eingeschränkt und ihnen den Zugang zu Hilfsstrukturen beschränkt.

In Ihren Projekten werden geflüchtete Frauen informiert, beraten und auch begleitet, damit gesellschaftliche Teilhabe gelingt. Welche Rolle spielen dabei Aufklärung bzw. Informationen über Hilfsangebote?

Dr. Delal Atmaca: Wie bereits erwähnt – es ist enorm wichtig, Beratungs- und Hilfsangebote bekannt zu machen. Wir verweisen selbstverständlich auf das hervorragende Angebot des Hilfetelefons, über das wir sehr froh sind. Größere Sichtbarkeit in der vollen Breite der Gesellschaft wäre wünschenswert – für das immer noch tabuisierte Thema Gewalt gegen Frauen und insbesondere für die prekäre Situation von Frauen mit Flucht- und Migrationserfahrung. Zum Beispiel wünschen wir uns mehr Aufklärung über die Situation von Frauen im Care-Bereich. Da bewegen sich Frauen in internationalen Care-Ketten und teilweise prekären Arbeitsverhältnissen bis hin zu rechtlosen Situationen. Sie arbeiten als Pflegerinnen rund um die Uhr in einem Haushalt, haben kaum soziale Kontakte und sind unter Umständen Übergriffen ausgesetzt – übrigens nicht nur seitens der älteren Männer, die sie betreuen, sondern auch durch Familienmitglieder.

Gibt es keine gesetzliche Grundlage zum Schutz dieser Frauen?

Dr. Delal Atmaca: Doch, die gibt es. Bereits im Jahr 2013 hat Deutschland die Konvention 189 des Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifiziert. Das Übereinkommen bestätigt die Arbeitsrechte von Hausangestellten. Zehn Jahre später kämpfen sie jedoch immer noch darum, als Beschäftigte und Dienstleistende anerkannt zu werden.

Wo könnte man ansetzen, etwas zu verändern?

Dr. Delal Atmaca: Bestehende Hilfsangebote müssen noch bekannter werden. Dass etwa das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" in 18 Fremdsprachen berät, ist sehr gut. Dieses Angebot hätte noch mehr Aufmerksamkeit verdient. Neben Öffentlichkeitsarbeit und Informationen sind Räume wichtig, in denen Frauen sich öffnen können. Wir müssen Schwellen abbauen. Dazu ein Beispiel aus der Praxis: Wir bieten Workshops zu kreativen Themen an. Im Laufe der wöchentlichen Treffen entsteht eine Vertrauensbasis. Eine Teilnehmerin berichtete dann eher beiläufig von sexualisierter Belästigung am Arbeitsplatz. Dann ist es nicht damit getan, dass wir der betroffenen Frau einen Flyer mit der Adresse von Beratungsstellen in die Hand drücken. Es braucht Raum, Zeit und Vertrauen – und Begleitung.

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