30.08.2017
Vier Zimmer, Küche, Bad: Eine normale Wohnung? Nicht ganz: Bei der Berliner Kriseneinrichtung Papatya finden Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, die von ihren Familien verfolgt werden, rund um die Uhr Schutz und Anonymität. Corinna Ter-Nedden ist Psychologin und begleitet die Entwicklung von Papatya seit 1986 als Teil eines interkulturellen Teams. Um die Anonymität der Einrichtung nicht zu gefährden, berichtet sie in einem belebten Café von ihrer Arbeit.
Leyla*, eines der Mädchen in der Einrichtung, ist leicht erkältet. Die Apotheke liegt nicht weit entfernt und das passende Mittel hat Corinna Ter-Nedden schnell gefunden. Zum Glück nichts Ernstes, denn Leyla* ist nur vorübergehend hier. Sie ist eines von acht Mädchen, die zurzeit in der Kriseneinrichtung Papatya in Berlin leben. Papatya bedeutet auf Türkisch Kamille. Der Name steht stellvertretend für einen anonymen Wohnraum, in dem Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund seit 1986 Zuflucht finden. Corinna Ter-Nedden ist Psychologin und war von Beginn an mit dabei. Sie erinnert sich noch gut an die Anfänge der Einrichtung in den 80er Jahren: "Außerhalb der Öffnungszeiten der Berliner Jugendämter war der Berliner Jugendnotdienst für die Vermittlung und Notunterbringung von Jugendlichen im gesamten West-Berliner Stadtgebiet zuständig. Mädchen und Jungen wurden damals gemeinsam untergebracht und auch von männlichen Mitarbeitern betreut. Und genau da lag das Problem für viele Familien mit Migrationshintergrund: Sie sahen dadurch den Ruf ihrer Töchter und die Familienehre in ernsthafter Gefahr und holten sie durchaus auch mit Gewalt nach Hause zurück."
Vom Berliner Senat wurde bald der besondere Bedarf für eine Kriseneinrichtung speziell für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund erkannt. Den Auftrag, geeignete Strukturen zu schaffen, erhielt ein kleiner deutsch-türkischer Frauenverein. Zu Beginn mit einem klaren Ziel: "Am Anfang haben wir in erster Linie auf Vermittlung zwischen den Mädchen und ihren Familien gesetzt. Unser Ziel war es, eine passgenaue Lösung zu finden, die alle Beteiligten zufrieden stellte."
Schnell habe man im Team jedoch gemerkt, dass eine solche Haltung den Mädchen nicht gerecht wurde. Die Verteilung von Macht und Kontrolle in den Familien ist sehr ungleich und der Anspruch der Eltern, über die Mädchen zu bestimmen derart massiv, dass eine parteiliche Vertretung der Mädchen die Voraussetzung dafür ist, dass diese mit ihren Anliegen gehört werden. Daher entschied man sich fortan dafür, klar auf der Seite der Mädchen zu stehen. Mittlerweile werden pro Jahr ungefähr sechzig Mädchen und junge Frauen bei Papatya aufgenommen, die Hälfte davon kommt aus dem gesamten Bundesgebiet. In den 30 Jahren ihres Bestehens hat die Einrichtung über 1.850 Mädchen und jungen Frauen zwischen 13 und 21 Jahren ein Zuhause auf Zeit geboten.
In den meisten Fällen geht es um Gewalt im Namen der "Ehre". Ein etwas altmodisch anmutendes Wortkonstrukt für eine reale Bedrohung, die für viele Mädchen und junge Frauen mit erschütternden Auswirkungen verbunden ist und immer wieder, nicht nur wenn es um Ehrenmorde geht, für Schlagzeilen sorgt.
Bei Gewalt im Namen der "Ehre" geht es nicht um die individuelle Ehre einer Einzelnen. Der Ehrbegriff bezieht sich auf die gesamte Familie, die in ihrem sozialen Umfeld als Einheit gesehen wird. Zentral für das Ansehen der Familie ist, dass die Töchter keinerlei Beziehungen zu Jungen vor der Ehe eingehen. Daher werden Mädchen und junge Frauen extrem in ihrer Freiheit eingeschränkt. "Jedes Verhalten der Mädchen entgegen der vorgegebenen Normen, das ihre ‚soziale Jungfräulichkeit’ verletzen könnte, fällt auf alle Mitglieder der Familie zurück und bringt diese bei der Gemeinschaft in Verruf." Vermeintliches Fehlverhalten wird nicht nur bei minderjährigen Mädchen bestraft. Auch junge Frauen, die bereits die Volljährigkeit erreicht haben, werden oft bewusst unmündig gehalten und ihrer persönlichen Freiheiten beraubt.
Entscheidet sich ein Mädchen dafür, die Familie zu verlassen, wird deren Ansehen schwer beschädigt. Gerade weil sie darum wissen, schaffen es nur wenige Mädchen, diesen Schritt zu gehen. "Wer zu uns kommt, hat einen Hochrisikostatus. Das heißt, das Mädchen ist in der jetzigen Situation akut gefährdet. Es genügt nicht, es einfach nur in einer anderen Stadt unterzubringen und die Adresse vor der Familie geheim zu halten. Zu uns kommen diejenigen, die allein durch die Entfernung nicht geschützt sind, die sich wirklich in Gefahr bringen, wenn jemand herausfindet, wo sie jetzt leben."
Auch aus diesem Grund ist Papatya deutschland- und europaweit gut vernetzt. Die Vermittlung geschieht über den Berliner Mädchennotdienst. Auf dort eingehende Beratungsanfragen erfolgt ein Rückruf durch Papatya. Vor jeder Aufnahme führt eine Mitarbeiterin von Papatya außerdem ein telefonisches Vorgespräch mit dem Mädchen. "Wir erklären, wie unsere Einrichtung arbeitet, dass wir insgesamt acht Plätze haben und immer eine weibliche Ansprechpartnerin da ist, die die Mädchen unterstützt. Genauso wichtig ist aber auch, dass wir hier feste Regeln haben. Besonders die, die sich auf die Geheimhaltung beziehen, müssen unter allen Umständen eingehalten werden."
Dazu gehören ein fester Tagesablauf, Hilfe im Haushalt und kein Ausgang nach 19 Uhr. Über eine verschlüsselte IP-Adresse können die Mädchen zwar Kontakt zur Außenwelt aufnehmen, Besuche in der Einrichtung und ein eigenes Handy sind für die Dauer des Aufenthalts aber tabu. Diese Bedingungen anzunehmen ist nicht für jede einfach, etwa wenn der Kontakt zu einem jungen Mann Grund für den Bruch mit der Familie war: "Es ist erstaunlich, aber die Sache mit dem Handy ist tatsächlich fast immer eine große Hürde. Manche haben vorher mit ihrem Zweithandy heimlich unter der Decke telefoniert. Das geht bei uns natürlich nicht. In solchen Fällen raten wir den Mädchen abzuwägen, wie viel Anonymität sie brauchen. Diejenigen, denen alles andere egal ist, solange sie in Sicherheit sind, die sind bei uns richtig."
Die meisten Mädchen bleiben für zwei Monate, in Einzelfällen ist ein längerer Aufenthalt möglich, etwa wenn die anschließende Unterbringung noch nicht geklärt ist. Manche Mädchen verlassen die Einrichtung in Absprache mit dem Team auch schon nach wenigen Tagen, wenn Heimweh und Schuldgefühle gegenüber der Familie oder jüngeren Geschwistern eine zu große Belastung darstellen. Kommen und Gehen ist damit immer Teil des Alltags in der Kriseneinrichtung. Jede Woche wird eines der Mädchen verabschiedet oder ein Neuzugang kündigt sich an. Dennoch entwickeln sich oft innige Freundschaften zwischen den Bewohnerinnen, die sich in der Krise gegenseitig Halt und Unterstützung bieten. Neben Arztterminen und Behördengängen stehen bei Papatya die Auseinandersetzung mit der Familie und die Klärung von Perspektiven nach dem Aufenthalt an erster Stelle. Das interkulturelle Team bietet aber auch Online-Beratung an und setzt sich mit einer Koordinierungsstelle gegen Verschleppung und Zwangsheirat ein.
Aber auch Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland gut in ein soziales Netz eingebunden sind, sind häufig nicht vor Verschleppung in die Herkunftsländer ihrer Familien geschützt. Etwa 30 Fälle von Verschleppung aus Deutschland registriert die Koordinierungsstelle pro Jahr. Oft ist der Aufenthalt im Herkunftsland der Familie auch mit Zwangsverheiratung verbunden: "Man gaukelt den Mädchen vor, es ginge darum, einen schönen Urlaub bei der Familie im Ausland zu verbringen. Am Ende wird ihnen gedroht: Entweder du heiratest deinen Cousin oder du kannst nie wieder nach Deutschland zurückkehren!". Besonders volljährige Mädchen, die einen deutschen Pass besitzen, sind begehrt, da sie im Rahmen des Familiennachzugs auch anderen Verwandten die Möglichkeit geben, nach Deutschland zu kommen.
Und obwohl es sich um Zwangsverheiratungen handelt, sind nur wenige Mädchen bereit, ihre Familie anzuzeigen. Sie wollen eine weitere Eskalation vermeiden und fürchten, dass ein Gerichtsprozess sie über einen langen Zeitraum in unfreiwilliger Verbindung mit ihrer Familie hält. Mit der Koordinierungsstelle setzt Papatya deshalb vor allem auf Prävention von Verschleppung, bietet im Notfall aber auch überregionale Hilfe an.
Die Zeit, die die Mädchen und junge Frauen bei Papatya verbringen, führt für viele zwar nicht zu sofortigen Lösung ihrer Situation, die positiven Erfahrungen von Wertschätzung und Unterstützung bleiben aber oft ein Leben lang. Corinna Ter-Nedden ist stolz, wenn sie von der Feier zum 30-jährigen Bestehen von Papatya erzählt: "Zu unserer Feier kamen eine ganze Menge Mädchen, die wir in den ersten Jahren begleitet haben. Es war schön zu sehen, dass sie ihren Weg gegangen sind, auch alleine und unter schwierigen Bedingungen. Sie sind mittlerweile gestandene Frauen und teilweise auch Mütter von Töchtern. Es gibt mir Hoffnung, dass ihre Kinder nicht das Gleiche durchmachen müssen."
*Name geändert